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Militärrabbiner: “Wer ein offenes Ohr sucht, bekommt es bei mir”

Bei der Bundeswehr gibt es seit 2021 Militärrabbiner. Shmuel Havlin ist einer von ihnen. Das Zuständigkeitsgebiet des 39-Jährigen erstreckt sich über die Bundesländer Hamburg, Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern, Bremen und Niedersachsen. Havlin ist wichtig, dass jüdische Bundeswehr-Angehörige ihre Religion bei der Arbeit frei ausüben können und Nicht-Juden etwas über das Judentum erfahren, sagte er dem Evangelischen Pressedienst (epd). Als Seelsorger hat er für alle ein offenes Ohr.

epd: Wozu braucht es bei der Bundeswehr Militärrabbiner und was sind deren Aufgaben?

Shmuel Havlin: Militärrabbiner gab es in der Geschichte schon einmal, im Ersten Weltkrieg, sie wurden damals Feldrabbiner genannt. Die etwa 100 Feldrabbiner kamen von allen jüdischen Gemeinden Deutschlands. Später gab es sie aufgrund der deutschen Geschichte nicht. Mittlerweile gibt es eine Menge Juden in der Bundeswehr. Wir haben keine offiziellen Zahlen, schätzen aber, dass es in der Bundeswehr deutschlandweit rund 400 Jüdinnen und Juden gibt. In der jüdischen Religion gibt es viele Ge- und Verbote. Koscheres Essen ist nur ein Beispiel. Wir Militärrabbiner tragen dazu bei, dass die Bundeswehr auf diese Besonderheiten Rücksicht nimmt, so dass Jüdinnen und Juden ihre Religion hier frei ausüben können. Darüber hinaus bieten Militärrabbiner seelsorgerische Begleitung an, und das nicht nur für Jüdinnen und Juden.

Wir halten regelmäßig LKU und LKS ab, die Abkürzungen stehen für „Lebenskundlicher Unterricht“ und „Lebenskundliche Seminare“. Dort kommen wir sehr gut mit den Soldaten ins Gespräch. Beide Angebote sind sehr beliebt, was daran liegt, dass die Menschen neugierig sind und nach Neuem suchen. In den religionsneutralen Runden geht es um ethische und moralische Themen, Bundeswehr-Angehörige können dort Fragen stellen und erhalten Antworten.

epd: Wie viele Militärrabbiner beschäftigt die Bundeswehr?

Havlin: Deutschlandweit sind es zurzeit sechs, davon zwei in Hamburg. Es sollen bundesweit insgesamt zehn werden, verteilt auf fünf Standorte. Pro Standort ist ein Militärrabbiner liberal und einer orthodox. Ich bin der orthodoxe in Hamburg. Mein Zuständigkeitsgebiet umfasst die fünf norddeutschen Bundesländer mit insgesamt 60 Standorten. Ernannt werden die Militärrabbiner vom Militärbundesrabbiner. Anders als wir ist er kein Bundeswehr-Angehöriger.

epd: Wie sind Sie von Israel nach Deutschland und schließlich zur Bundeswehr gekommen?

Havlin: Ich bin in Israel geboren und aufgewachsen, habe in den USA studiert und bin dort als Rabbiner ordiniert worden. Zurück in Israel, habe ich geheiratet, wir bekamen unsere ersten Kinder. Über die internationale jüdische Organisation Chabad gelangte ich dann als Repräsentant nach Hamburg. Dort fragte mich die Jüdische Gemeinde, ob ich als Schulrabbiner arbeiten möchte. Das tat ich zehn Jahre bis 2022. Der Chabad-Verein wiederum bat mich, eine jüdische Organisation in Bremen zu gründen. Wir zogen dorthin und wohnen noch heute dort. Schließlich fragte mich der Militärbundesrabbiner, ob ich es mir vorstellen könnte, mich als Militärrabbiner zu bewerben. Für mich war das Neuland, ich wusste überhaupt nicht, was das bedeutet. Also habe ich recherchiert, gelesen und festgestellt, dass es mich sehr interessiert und dass ich das gern machen möchte, weshalb ich mich bewarb. Man hat schließlich nicht jeden Tag die Gelegenheit, Geschichte zu schreiben. Bei der Bundeswehr kann ich jetzt genau das tun: Ich kam in einen ganz neu errichteten Bereich, und ich kann selbst dazu beitragen, wie dieser aussehen soll und welche Bedeutung er haben wird. Ich fing Mitte Dezember auf Angestelltenbasis als Militärrabbiner an und wurde ein halbes Jahr später, am 1. Juni 2023, verbeamtet und offiziell in das Amt eingeführt.

epd: Wer kommt zu Ihnen? Oder gehen Sie selbst zu den Menschen?

Havlin: Ich besuche Menschen an ihren Standorten, und genauso kommen Menschen zu mir nach Hamburg. Sie kommen von überall aus Norddeutschland, nicht alle sind Juden, sondern einfach nur neugierig oder auf der Suche nach anderen Blickwinkeln.

Ich treffe mich mit Menschen normalerweise im Rahmen einer LKU. Wir schaffen damit einen neutralen Raum, die Soldaten können dort offen miteinander kommunizieren, ihr Vorgesetzter ist meist nicht dabei. Wir führen offene Gespräche auf Vertrauensbasis, kommen zu unterschiedlichen Themen ins Gespräch, auch über das Judentum.

Später wenden sich einzelne Soldaten dann gezielt an mich und bitten um Hilfe oder seelsorgerliche Begleitung. Oft geht es dabei um Todesfälle. Viele, die mit mir sprechen, suchen einfach eine vertraute Person, auf die Religion kommt es dabei längst nicht immer an. Wer ein offenes Ohr sucht, bekommt es bei mir. Die Gespräche unterliegen der Schweigepflicht.

epd: Was reizt Sie besonders an Ihrer Tätigkeit als Militärrabbiner?

Havlin: Ich liebe den direkten Kontakt zu Menschen. Als Militärrabbiner spreche ich teilweise vor 50, 60, 70 Soldaten, die wenig oder gar keine Ahnung vom Judentum haben. Ich darf es ihnen vorstellen. Das finde ich sehr wichtig, denn oft begegnen Menschen in Deutschland dem Judentum das erste Mal leider auf eine ganz andere Art, nämlich, indem sie Schlagzeilen lesen und darin erfahren, dass mal wieder etwas Schlimmes passiert ist. Dabei hat das Judentum viel mehr anzubieten, als nur Sicherheitsmaßnahmen treffen und sich gegen Antisemitismus zur Wehr setzen zu müssen.

epd: Welche Rolle spielt der Nahost-Konflikt bei Ihrer Arbeit?

Havlin: Es gibt keine direkte Verbindung und ich darf mich in meiner Funktion als Militärangehöriger und -rabbiner auch nicht dazu äußern. Aber ich komme aus Israel, Familienangehörige von mir leben dort, insofern betrifft das dortige politische Geschehen mein Leben. Am 7. Oktober 2023 fühlte ich mich, als würde ich in zwei Welten leben, denn zwei meiner fünf Kinder gehen in Israel zur Schule, weil sie Rabbiner werden möchten. Weil sie dort sind, muss ich stets wissen, was in Israel geschieht. Stellt mir jemand Fragen zur dortigen politischen Lage, darf ich diese zumindest persönlich beantworten. Ich tue das beispielsweise im Rahmen einer LKU und sehe darin auch einen Vorteil: Wenn dort jemand über seine Familie sprechen möchte und ich habe vorher über meine Familie geredet, dann schafft das eine ganz andere, offene Ebene.

epd: Was haben Sie als Militärrabbiner bisher erreicht und was gibt es schwerpunktmäßig in nächster Zeit zu tun?

Havlin: Ich habe persönlich alle fünf Bundesländer bereist und viele Standorte besucht, aber noch nicht alle 60. Da sich der Militärrabbinats-Bereich noch im Aufbau befindet, bin ich nach wie vor fast jeden Tag dabei, mich Kameraden und Vorgesetzten überhaupt erst vorzustellen. Wir reden hier immerhin über Tausende Beschäftigte. Jeden Einzelnen persönlich kennenzulernen, wird gar nicht möglich sein. Wichtig sind daher Multiplikatoren, die uns zum Beispiel im LKU kennenlernen und die dann anderen Soldaten von uns Militärrabbinern erzählen. Ein Riesenvorteil ist, dass sich mein Büro bei der Führungsakademie der Bundeswehr befindet. Die Soldaten hier werden innerhalb von zwei Jahren zu Führungskräften und als solche überall in Deutschland tätig sein, wo sie über unsere Arbeit berichten können.

epd: Welche besonderen Eindrücke konnten Sie bislang gewinnen?

Havlin: Mich fasziniert, welch großes Gewicht Moral und Ethik bei der Bundeswehr haben. Ich halte beides für sehr wichtig und freue mich, dass sich die Bundeswehr so sehr damit beschäftigt. Ich bin mir sicher, dass das bei vielen anderen Armeen nicht so ist.

epd: Haben Sie einen Wunsch für die kommende Zeit?

Havlin: Ich möchte erreichen, dass Judentum in der Bundeswehr von allen als etwas ganz Normales angesehen wird. Juden in der Bundeswehr müssen zur Selbstverständlichkeit werden, ebenso wie Christen und Muslime in der Bundeswehr völlig normal und selbstverständlich sein müssen. Und auch für Deutschland insgesamt wünsche ich mir, dass Judentum als etwas Normales betrachtet wird.