Mehr als jeder Zweite hat bei der vergangenen Landtagswahl in Hirschfeld in Südbrandenburg die AfD gewählt. Auch in Bodelshausen bei Tübingen kommt die Partei am rechten Rand gut an. Warum? Ortsbesuch in Ost und West.
Pfarrer Hans-Jörg Heinze hat einen Pfadfinderstamm gegründet. Fährten lesen, Bäume bestimmen, der Verhaltenskodex der Pfadfinder und der achtsame Umgang miteinander: “So etwas kommt hier an. Es war mir wichtig, den Kindern des Ortes Derartiges anzubieten”, sagt der 61-Jährige. Im nahegelegenen Lindenau gebe es, so wurde es ihm angetragen, eine “rechte Jugendarbeit”, die junge Erwachsene an sich ziehe. “Auch Hirschfelder nutzen dieses Angebot. Dem möchte ich etwas entgegensetzen.”
Hirschfeld, das ist ein netter Ort in Südbrandenburg, an der Grenze zu Sachsen gelegen, rund 1.200 Einwohner. Anders als in anderen Orten in Ostdeutschland gibt es hier keinen offenkundigen Grund, sich abgehängt zu fühlen: “An der Infrastruktur liegt es nicht”, sagt Heinze, der als evangelischer Pfarrer auch für die umliegenden Ortschaften Großthiemig und Gröden zuständig ist. Bäcker, Apotheke, Gaststätten, Ärzte, Kita und Schule, eine regelmäßige Zugverbindung nach Berlin aus dem nahe gelegenen Elsterwerda: “Es ist alles da.”
Auf den Straßen liegt weder Müll noch Hundekot, die Vorgärten der Ein- und Zweifamilienhäuser sind gepflastert. “Hier ist alles ganz ordentlich – aber richtig ordentlich”, fasst Heinze es zusammen. Seit fünf Jahren lebt er mit seiner Frau in Hirschfeld; er mag den Landstrich, die Vielfalt der Natur und den Menschenschlag. Und dem Sachsen gefällt, dass hier – obwohl noch Brandenburg – gesächselt wird.
Der Pfarrer weiß, dass die Idylle trügt, dass sich in seinem Dorf wie auch in anderen Regionen Deutschlands extremistisches Gedankengut Bahn bricht: Mehr als jeder Zweite hat hier bei der Landtagswahl im Herbst die AfD gewählt.
“Wer mit offenen Augen durch das Dorf geht, sieht das auch”, sagt Heinze. An diesem nasskalten Wintertag sind die Straßen leer. “Lügenpresse” wurde quer über ein riesiges Wahlplakat der Grünen am Ortseingang geschmiert. An vielen Stellen haften Aufkleber, die auf eine rechtsradikale Gesinnung schließen lassen. “Kniet nieder, die Deutschen kommen” steht da etwa an einem Laternenpfahl. Seine Frau Almuth würde am liebsten alle derartigen Aufkleber entfernen, erzählt Heinze. “Sie transportieren so viel Hass. Das findet sie unerträglich.”
Ein paar Kilometer weiter macht Martina Opitz im Großthiemiger Pfarrhaus gerade Inventur. Die Gemeindekirchvorsitzende glaubt, der hohe Zuspruch zur AfD, den es auch in diesem Dorf gibt, rühre von einer “Angst, dass alles schlechter wird”.
Sozialneid spiele grundsätzlich in der Migrationsdebatte eine Rolle. Allgemeinplätze wie “Die kriegen alles umsonst, und ich muss es bezahlen” würden häufig weitergegeben, aber kaum hinterfragt – Sätze wie “das weiß man doch” genügten als Argument. “Und wenn es erst einmal in den Köpfen drin ist…”, sagt die 66-Jährige und schweigt nachdenklich. Noch gebe es eine Art Scham, sich offen zur AfD zu bekennen. “Ich habe Angst davor, was passiert, wenn die Dämme brechen.”
Unweit der Kirche in Hirschfeld gibt es einen Jugendclub. “Viele der jungen Erwachsenen, die dort hingehen, machen aus ihrer rechten Gesinnung keinen Hehl”, sagt Pfarrer Heinze. Sie trügen etwa schwarz-weiß-rote Kappen – die Farben der Reichsflagge als nationalistisches Symbol. Andere potenzielle AfD-Wähler könne er hingegen nur erahnen: “Sie sagen es nicht offen, aber durch das, was sie sagen, wird ihre Haltung deutlich.” Zum Beispiel Dinge wie: “So wie in Neukölln mit so vielen Arabern und verschleierten Frauen soll es hier nicht sein, das wollen wir hier nicht.”
Dabei ist es nicht so, als gebe es in Hirschfeld und Großthiemig keine Ausländer. In Hirschfeld stehen die Menschen zur Mittagszeit am türkischen Dönerstand Schlange. Vereinzelt leben Paare in beiden Dörfern, bei denen ein Partner nicht aus Deutschland kommt. Sie seien gut integriert, sagt Heinze.
Er hat Kontakt zu vielen Menschen hier, wird im Sommer zum Grillen oder auf ein Bier eingeladen. Oft werde dann die vergangene DDR verklärt. “‘Jetzt habe ich doch auch keine Meinungsfreiheit’, sagen manche Dorfbewohner etwa mit Blick auf das Gendern. Oder: ‘Demokratie ist ein Traum'”, erzählt Heinze. Er findet es ungeschickt, die AfD hauptsächlich zu bashen. “Auch das führt dazu, dass die Menschen sich hier mit ihr solidarisieren, nach dem Motto: ‘Ich bin ja auch am Rand. Ich bin ja auch der Ossi, den keiner sieht.’ Nicht alle, die AfD wählen, sind Nazis.”
Dass sich immer mehr Menschen im Ort für diese Partei entscheiden, hat nach Einschätzung des Pfarrers auch damit zu tun, dass Probleme von vielen Politikern nicht ehrlich kommuniziert würden. “Man sollte sagen: Wir haben ein Problem. Dafür gibt es die und die Gründe. Aber wir gehen es an.” Konkret meint er die aktuelle Kriminalitätsstatistik und den Anteil von Ausländern an Straftaten; rund 41 Prozent der Tatverdächtigen haben laut Statistik keinen deutschen Pass. Heinze: “Es ist schwierig, wenn so etwas nicht klar benannt wird.”
Nicht nur im Osten, auch im Westen Deutschlands kann die AfD auf dem Land punkten – zum Beispiel in Bodelshausen in Baden-Württemberg, 470 Kilometer Luftlinie von Hirschfeld entfernt. Hier wurden die Blauen bei der Europawahl im Juni 2024 mit 19,6 Prozent der Stimmen nach der CDU zweitstärkste Partei. Ganz anders als in der benachbarten Universitätsstadt Tübingen, wo sie nur auf 4,6 Prozent kamen.
Alte Fachwerkhäuser, Villen, auch ein schickes Neubaugebiet gibt es hier. Aber unter der Oberfläche rumort es. Charlotte Sander, seit 2018 evangelische Pfarrerin in dem Dorf mit rund 6.000 Einwohnern, sagt auf die Frage nach den Ursachen der AfD-Stärke: “Eine gewisse Verdrossenheit”. Es gebe “das Gefühl vieler Menschen hier, zu kurz zu kommen.”
Eigentlich sei das absurd. “Wir leben hier in Deutschland in einer unglaublich privilegierten Situation, uns geht es eigentlich supergut”, betont die 62-Jährige. Es gebe keinen Diktator wie in manchen anderen Ländern – etwa in Russland oder bis vor kurzem in Syrien. Menschen müssten nicht wie in manchen afrikanischen Ländern fliehen, weil ihre Ernten der Dürre zum Opfer fallen oder brutale Milizen ihre Blutspur durch ein Land ziehen.
Dennoch: Dass nach Bodelshausen mehrere hundert Flüchtlinge kommen sollten, hat den schwäbischen Ort im vergangenen Jahr aufgewühlt. Ursprünglich sollten in einem ehemaligen Firmengebäude – einem schwarzen, quaderartigen Anwesen – bis zu 250 Geflüchtete aus der Ukraine und aus anderen Ländern vorübergehend Platz finden. Doch das Vorhaben des Landkreises Tübingen ist nach einer Gerichtsentscheidung inzwischen gestoppt. Einer der Gründe: Das verhinderte Flüchtlingsheim grenzt an ein Neubaugebiet. Von Anwohnern habe es massiven Widerstand gegen das Projekt gegeben, berichtet der Sprecher des Unterstützerkreises für Flüchtlinge in Bodelshausen (UK), Alfons Haid. Inzwischen wird dezentral nach Wohnungen gesucht.
Haid, ein pensionierter Lehrer für die Fächer Deutsch und Geschichte, sieht einen Hauptgrund für das Erstarken der AfD darin, dass viele Bodelshausener verunsichert seien. “Früher haben sich hier alle gekannt”, sagt der 78-Jährige. Doch als dann Flüchtlinge kamen – aus der Ukraine, aber auch aus Afrika – habe sich etwas verändert. Man höre häufiger den Satz: “Das ist nicht mehr mein Bodelshausen”. Obwohl der Ort nicht so wirkt, als werde er von Nicht-Bodelshausenern überrannt, gebe es eine “Angst vor Überfremdung”. Auf einem AfD-Wahlplakat im Ortszentrum heißt es: “Zeit für sichere Grenzen”.