Deutsche und namibische Kirchen erkennen ihre Verantwortung am Völkermord an Herero und Nama an.
Von Gerd Decke
Vom 10. bis 16. Mai findet in Windhuk, der Hauptstadt Namibias, die Vollversammlung des Lutherischen Weltbunds (LWB) mit 800 Teilnehmenden aus evangelisch-lutherischen Kirchen der ganzen Welt statt. Im März hat zu diesem Anlass der Mainzer Arbeitskreis Südliches Afrika (MAKSA) einen Appell an die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) und den Lutherischen Weltbund gerichtet. Darin geht es um die Anerkennung des ersten Völkermords des 20. Jahrhunderts, um historische Verantwortung, Schuldbekenntnis, Heilung der Erinnerungen, Wiedergutmachung und Konsequenzen für die Gemeinschaft der Kirchen. Der Arbeitskreis MAKSA setzt sich seit 1972 für Gerechtigkeit in den Beziehungen zum Südlichen Afrika ein. Die meisten Mitglieder haben dort als kirchliche Mitarbeitende gearbeitet. Sein Appell ist an den Lutherischen Weltbund und an viele seiner Mitgliedskirchen geschickt worden – Deutschland, Namibia, Südafrika, Tansania, Äthiopien, Skandinavien, USA – um auf den Kairos, den einzigartigen Zeitpunkt, hinzuweisen: Die weltweite Gemeinschaft der lutherischen Kirchen trifft sich in Namibia, im „lutherischsten“ Land Afrikas. Dort gehören mehr als die Hälfte der 2,1 Millionen Einwohner zu den drei lutherischen Kirchen. Diese sind die Evangelisch-lutherische Kirche in Namibia (frühere Ovambo-Kavango-Kirche) mit 700000 Mitgliedern, die aus der Finnischen Mission hervorgegangen ist. Zudem die Evangelisch-lutherische Kirche in der Republik Namibia, zu der auch die Herero und Nama gehören mit 420000 Mitgliedern, die aus der Rheinischen Mission hervorgegangen ist. Und die Deutsche Evangelisch-lutherische Kirche mit 5000 Mitgliedern. Von den in Windhuk versammelten Kirchen sind einige, vor allem im Südlichen Afrika, in Tansania, Äthiopien und in Palästina über das Berliner Missionswerk direkt Partnerkirchen der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz.An diesem besonderen Ort Windhuk solle nun das längst Überfällige geschehen. Im Appell von MAKSA heißt es dazu: „Das Deutsche Reich verübte zwischen 1904 und 1908 in seiner damaligen Kolonie Deutsch-Südwestafrika Völkermord. Auslöser war der Widerstand zuerst der Herero und dann der Nama gegen ihre Enteignung und Entrechtung seit 1884, gegen Betrug und körperliche Übergriffe deutscher Soldaten, Händler und Siedler im Zuge der kolonialen Besetzung. Der Widerstand wurde auf Befehl höchster deutscher Stellen mit brutalen Mitteln gebrochen.“Mit der vollständigen Landenteignung, einem regelrechten Landraub sowie dem Verbot, Großvieh zu halten, entzog man den Herero und Nama die entscheidende Lebensgrundlage. Die offizielle deutsche Politik hat den Völkermord jahrzehntelang geleugnet.2004, hundert Jahre nach dem Beginn des Völkermords, hat sich der damalige Außenminister Joschka Fischer vehement dagegen ausgesprochen, dass eine solche Anerkennung geschieht, damit daraus keine finanzielle Verpflichtung für die Bundesrepublik entstehe. Die Ministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit, Heidemarie Wieczorek-Zeul, hat allerdings auf einer Gedenkveranstaltung in Namibia 2004 von „Völkermord“ gesprochen und „um Vergebung unserer Schuld“ gebeten. Die Nachfahren der Opfer sollen ihr Recht bekommen
Auch Bundestagspräsident Norbert Lammert hat im Juli 2015 den Vernichtungskrieg an den Herero und Nama als Völkermord bezeichnet. Von der Bundesregierung wurde er im Juli 2016 offiziell als Völkermord anerkannt. Seit Mitte 2015 gibt es Verhandlungen zwischen der deutschen und der namibischen Regierung. Dabei ist die Frage von Entschädigungen bisher noch nicht geklärt, ebenso wenig wie die Frage, ob Vertreter der damaligen Opfer der Herero und Nama teilnehmen. Inzwischen ist durch den in New York angestrengten Prozess der Vertreter der Opfergruppen gegen die Bundesregierung die Aufmerksamkeit weltweit groß.Im Jahr 1896 haben die Vorgängerorganisation der EKD, der Preußische Evangelische Oberkirchenrat (EOK), sowie die damaligen deutschen Kolonialbehörden bei der Entstehung der evangelischen Gemeinde Windhuk eine entscheidende Rolle gespielt. Als Nachfolgerin des EOK trägt die EKD eine besondere Verantwortung für die Aufarbeitung der geschichtlichen Beziehungen zu der deutschen evangelischen Kirche in Namibia. Das betrifft insbesondere die Frage der Rolle des EOK und der deutschen evangelischen Gemeinde beim Völkermord von 1904 bis 1908.Die heutige Vereinte Evangelische Mission (VEM), Nachfolgerin der Rheinischen Missionsgesellschaft, hat – anders als die EKD – 1990 ihre Mitschuld an Kolonialismus, Rassismus und Apartheid in Namibia bekannt. Die Kirche im Rheinland hat 2004 die EKD vergeblich aufgefordert, eine öffentliche Erklärung zu ihrer „Verantwortung hinsichtlich der Kolonialgeschichte“ abzugeben. Die Solidarische Kirche im Rheinland, ein Zusammenschluss von 180 Mitgliedern der Rheinischen Kirche, hat 2015 ebenfalls vergeblich dazu aufgerufen, „die kirchliche Mitschuld für den Völkermord an den Herero und Nama endlich anzuerkennen“. Deswegen appelliert MAKSA im März 2017 an die EKD, endlich zu handeln: „Die EKD wird aufgefordert, ihre bisherige Zurückhaltung aufzugeben und sich zur historischen Mitverantwortung am Völkermord zu bekennen.“ Insbesondere die EKD, aber auch der LWB und die namibischen lutherischen Kirchen sollen dazu beitragen, dass den Nachfahren der Opfer zu ihrem Recht verholfen wird. In diesen Tagen nun hat die EKD unter der Überschrift „Vergib uns unsere Schuld“ (Matthäus 6,12) am 24. April endlich eine „Erklärung zum Völkermord im früheren Deutsch-Südwestafrika“ veröffentlicht. Mit einem Schuldbekenntnis und der Bitte um Vergebung hat sich die Evangelische Kirche in Deutschland an die Nachfahren der Opfer des „aus Sicht der meisten Historikerinnen und Historiker ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts“ gewendet. „Als Nachfolgeinstitution des einstigen Evangelischen Preußischen Oberkirchenrats, der seinerzeit im Auftrag aller deutschen evangelischen Landeskirchen handelte, bekennen wir uns als Evangelische Kirche in Deutschland heute ausdrücklich gegenüber dem gesamten namibischen Volk und vor Gott zu dieser Schuld. Wir bitten die Nachfahren der Opfer und alle, deren Vorfahren unter der Ausübung der deutschen Kolonialherrschaft gelitten haben, wegen des verübten Unrechts und zugefügten Leids aus tiefstem Herzen um Vergebung.“ Die Frage der Entschädigung wird nicht berührt
Diese Erklärung kommt leider sehr spät. Die bevorstehende Vollversammlung des LWB am Ort der damaligen Gräueltaten hat den entscheidenden Impuls gegeben, wie die Auslandsbischöfin der EKD, Petra Bosse-Huber, zugibt. Immerhin: Endlich wird die historische Verantwortung der Mitschuld am Völkermord anerkannt.Aber es fehlt der zweite Punkt der Forderungen des MAKSA-Appells: „Insbesondere die EKD, aber auch der LWB und die namibischen lutherischen Kirchen sollen dazu beitragen, dass den Nachfahren der Opfer zu ihrem Recht verholfen wird.“ Die Frage der Entschädigung wird nicht berührt, obwohl sie der entscheidende Streitpunkt in den Verhandlungen der Regierungen ist. Der Streit zwischen dem deutschen Unterhändler Rupert Polenz und den Vertretern der Herero und Nama, ob der Völkermord an den Herero und Nama mit dem Völkermord an den Juden zu vergleichen sei, ist wahrscheinlich auch deswegen so brisant, weil es hier um eine Parallele zur Wiedergutmachung an Israel und jüdischen Opfern in den 1950er Jahren geht.Der dritte Punkt des Appells „Die EKD, der LWB und die namibischen lutherischen Kirchen werden aufgefordert, dazu beizutragen, dass die Christuskirche zum Symbol einer vereinigten lutherischen Kirche Namibias wird“ erscheint in der Erklärung der EKD nur als Mitarbeit am „Umgestaltungskonzept“ der Christuskirche. Sie ist die repräsentative Kirche in Windhuk seit 1910.
Auch eine umfassende Auseinandersetzung mit der Rolle der Pfarrer und der Gemeinde während des Völkermordes steht noch aus. Schließlich haben die Pfarrer die Truppen für den Einsatz gesegnet, den Altar mit der Reichskriegsflagge drapiert, die Kämpfe mit Feldgottesdiensten begleitet. Entscheidend ist aber, dass in dieser Kirche eine völlige Veränderung geschieht. Bisher wird in der Christuskirche auf großen Gedenktafeln der 2000 deutschen Toten gedacht, die 90000 Opfer des Völkermords aber mit keinem Wort erwähnt. Der Appell des MAKSA endet so: „Aus Anlass und am Ort der kommenden Vollversammlung der aus der lutherischen Reformation entstandenen Kirchen sollte es gerade in Windhuk unter dem Thema ,Befreit durch Gottes Gnade‘ zu einem Prozess der Anerkennung der historischen Mitverantwortung am Völkermord kommen. Das Bekenntnis von Schuld und die Verpflichtung zur Wiedergutmachung den Herero und Nama gegenüber sind erste Schritte zur möglichen Heilung der Erinnerungen.“
Gerd Decke war bis 2005 Referent des Berliner Missionswerks für das Südliche Afrika und das Horn von Afrika.