Die nächste Pandemie kommt bestimmt. Umso wichtiger wäre es, Fehler aus der Corona-Zeit zu benennen und zu lernen. Aber das scheint schwieriger als gedacht. Einige Fragen, die beantwortet werden sollten.
Fünf Jahre nach Ausbruch der Corona-Pandemie diskutiert Deutschland weiterhin über eine Form der Aufarbeitung. Fest steht, dass die Pandemie tiefe Spuren in der Gesellschaft hinterlassen hat. “Es sind Narben geblieben, die schmerzen”, so formulierte es Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier vor wenigen Tagen. Die Katholische Nachrichten-Agentur (KNA) nennt wichtige Fakten und zentrale Fragen, die bei einer Aufarbeitung eine Rolle spielen dürften.
Im Verlauf der Pandemie starben in Deutschland nach offiziellen Angaben 174.352 Menschen an oder mit Covid-19. Mehr als 38 Millionen Menschen infizierten sich. Bis zum 8. April 2023 waren 63,6 Millionen Personen oder 76,4 Prozent der Gesamtbevölkerung mindestens einmal geimpft. 52,1 Millionen Personen oder 62,6 Prozent haben eine oder mehrere AuffrischungsImpfungen erhalten. Geschätzt eine halbe Million Menschen leiden unter Spätfolgen einer Corona-Infektion. Weltweit ist von sieben Millionen Toten und 700 Millionen Infektionen die Rede.
Eine systematische Bilanz ist in Deutschland bislang ausgeblieben. Weder haben sich die Bundestagsparteien auf eine Enquetekommission geeinigt. Noch ist der von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) geforderte Corona-Bürgerrat eingesetzt worden, an dem auch ausgeloste Bürger beteiligt werden sollten. Auch einen Corona-Untersuchungsausschuss im Bundestag gab es nicht. Zur Auswertung der Corona-Auflagen setzten Bundesregierung und Bundestag einen Sachverständigenausschuss ein.
Das mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern besetzte Gremium wurde von Beginn an kritisch gesehen. Die Sachverständigen verwiesen auf die beschränkte Aussagekraft der Ergebnisse aufgrund der “meist lückenhaften Datenlage” und des hohen Zeitdrucks. Einzelne Institutionen haben für sich Bilanz gezogen: Eine von der Deutschen Forschungsgemeinschaft eingerichtete Kommission für Pandemieforschung hat im vergangenen Jahr einen Bericht zur Rolle der Wissenschaft vorgelegt. Der Deutsche Ethikrat hat mehrfach Empfehlungen für einen künftigen Umgang mit Pandemien vorgelegt.
Noch-Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) zeigt mit seiner Forderung, eine Aufarbeitung müsse “nach vorn gerichtet sein”, wo wohl das größte Hindernis liegt. Auch die Soziologin Jutta Allmendinger verwies auf die große Sorge der Verantwortungsträger, dass die Debatte über mögliche Fehler zu neuer Hetze und neuen Polarisierungen führen könnte. Kaum verheilte Wunden könnten wieder aufbrechen.
Die frühere Vorsitzende des Deutschen Ethikrats, Alena Buyx, warnte, die Aufarbeitung könnte von einer kleinen, sehr lauten Gruppe instrumentalisiert werden, um das Vertrauen in Staat und Demokratie zu schwächen. Deutliche Warnungen kamen auch von Caritas-Präsidentin Eva Maria Welskop-Deffaa: “Eine Aufarbeitung, die rückwirkend Schuldzuweisungen und Verdächtigungen in den Mittelpunkt stellt, wird für eine nächste Krise das Gegenteil von dem bewirken, was erreicht werden soll: Menschen werden weniger bereit sein, unter riskanten Bedingungen zupackend Entscheidungen zu treffen.”
Der Bundespräsident hat seinen festen Willen dazu bekundet. “Wir werden uns nach den Neuwahlen sehr schnell auf das ‘Wie’ der Aufarbeitung verständigen müssen. Es eilt”, erklärte er. Wenn eine neue Regierung und ein neuer Bundestag sich dieser Aufgabe tatsächlich nicht widmen sollten, werde er das tun.
Steinmeier weist darauf hin, dass Staaten wie Großbritannien und Schweden, aber auch einzelne Bundesländer und Städte unterschiedliche Formen gefunden haben, um die Aufarbeitung zu leisten. In Österreich gab es ein wissenschaftliches Projekt und parallel dazu ein großes Bürgerbeteiligungsverfahren. Daran haben insgesamt 320 Leute teilgenommen, die repräsentativ ausgewählt wurden.
Da gibt es die Frage, ob ein föderaler Staat in einer solchen Notsituation angemessen schnell und einheitlich vorgehen kann. Während der Pandemie gab es teilweise von Bundesland zu Bundesland unterschiedliche Regelungen, etwa bei der Öffnung von Möbelhäusern und Autowerkstätten. Auch Profilierungsversuche der Landespolitiker sorgten für Verwirrung. Das hat zu erheblichem Verdruss und Autoritätsverlust geführt.
Eine große Rolle spielte die Frage, ob die drastischen Eingriffe in Grundrechte ausreichend demokratisch legitimiert waren. Außerdem stellte sich heraus, dass etwa der öffentliche Gesundheitsdienst völlig unterbesetzt und schlecht ausgestattet war. Es zeigte sich schmerzlich, dass Deutschland bei der Digitalisierung Entwicklungsland ist. So war sehr lange nicht klar, über wie viele Intensivbetten mit ausreichendem Personal Deutschland verfügte.
Im Februar 2021 setzten Bund und Länder sich das Ziel, durch eine zügige Impfung das Virus langfristig wirksam zu bekämpfen. Die Forderung nach einer allgemeinen Impfpflicht fand im Bundestag keine Mehrheit. Der ehemalige Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) sieht rückblickend die Impfpflicht für einige Berufsgruppen kritisch. Mit Forderungen nach Zwangsimpfungen müsse man sehr vorsichtig sein, sagte er in Bezug auf die umstrittene Impfpflicht für das Personal in Pflege- und Gesundheitseinrichtungen, die ab Mitte März 2022 nachgewiesen werden musste.
Insgesamt hat der Streit um die Impfpflicht viel zur Spaltung der Gesellschaft und zu einem Freund-Feind-Denken beigetragen. Das lag möglicherweise auch am stark moralisierenden Ton, mit dem Impfen fälschlicherweise als Patentlösung für die Überwindung der Pandemie angepriesen wurde. Damit staute sich im Laufe der Pandemie eine Wut auf, die sich bald gegen den Staat und die Politik richtete.
Viele der offenen Fragen drehen sich um die Verhältnismäßigkeit politischer Anordnungen zur Eindämmung der Pandemie. Es geht um die Wirksamkeit von Lockdowns, Maskenpflicht, Ausgangssperren, Schul- und Kitaschließungen, Besuchsverboten in Pflegeeinrichtungen und anderen Kontaktbeschränkungen. Daten dazu müssten ausgewertet werden. Außerdem müssten die Ergebnisse gegengerechnet werden gegen gesellschaftliche Kosten: Im Nachhinein kritisieren viele Politiker die Schul- und Kindergartenschließungen als unverhältnismäßig. Auch die Isolierung alter und sterbender Menschen wird vielfach als Fehler bezeichnet. Die Wirkung von Einsamkeitsgefühlen wurde unterschätzt.
Viele Sozialwissenschaftler und Kommunikationsforscher kommen zu dem Schluss, dass die Kommunikation in der Pandemie nicht gut funktioniert hat. Zu Beginn war das Vertrauen in die Wissenschaft sehr hoch; durch konträre Stellungnahmen, Prestige-Kämpfe und auch durch zugespitzte Medienberichterstattung kam es zu einem Vertrauensverlust in die Wissenschaft. Beobachter fordern, dass es in einer künftigen Krise klare Verantwortlichkeiten und Rollenzuständigkeiten geben muss.
Eine Regierung müsse deutlich machen, dass sie sich zwar wissenschaftlich informiert hat, aber auch willens ist, eine selbstständige Entscheidung zu treffen. Gerade wenn neue Erkenntnisse zu einem Kurswechsel führten, müsse das erklärt werden. Gefordert wird darüber hinaus, Wissenschaftler besser auf Politikberatung vorzubereiten und die Prozesse der Politikberatung besser zu organisieren. Verwiesen wird auf Großbritannien, wo es bereits seit mehr als zehn Jahren Erfahrung in der wissenschaftlichen Politikberatung gibt. Das staatliche Government Office of Science hält britische Politiker zu Zukunftsthemen aus der Wissenschaft auf dem Laufenden und berät in Notfällen.
Da müsste es etwa darum gehen, ob bei künftigen Pandemien die Versorgung mit Masken, Medikamenten und Impfstoffen gesichert ist. Gibt es ausreichend Personal in Heimen und Kliniken? Außerdem genügend Intensivbetten und Isolierstationen? International stellt sich die Frage, ob Laborkapazitäten ausreichen und Alarmketten funktionieren. Während der Pandemie hat die Frage der gerechten Verteilung der Impfstoffe für viel Streit gesorgt.
Neben viel seriöser Information gab es auch den Wettlauf um die meisten Clicks, die härtesten Schlagzeilen und die zugespitzteste Personalisierung. Christian Drosten etwa wurde einerseits zum bekanntesten Virologen Deutschlands, bei anderen aber auch zum meistgehassten. Einerseits warfen etwa Impfgegner der “Systempresse” vor, Regierungsmaßnahmen unkritisch transportiert zu haben. Andererseits gab es Vorwürfe, dass Medien eine “falsche Ausgewogenheit” gezeigt hätten: Seriöse Wissenschaftler seien mit Vertretern gleichgestellt worden, die mit unseriösen Theorien und falschen Fakten hausieren gegangen seien.