Die Hauptstadt stand am Donnerstag ganz im Zeichen des Gedenkens an den 80. Jahrestag des Weltkriegsendes. Spitzen aus Kirchen und Politik formulierten Dank und Mahnungen. Auch Jugendliche kamen zu Wort.
Berührend sind die Klagepsalmen, die ein jüdischer Kantor an diesem denkwürdigen Tag anstimmt. Gut 80 Jahre zuvor erklangen sie im Warschauer Ghetto. Nun hallen sie durch die Berliner Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, die immer noch die Spuren ihrer Bombardierung trägt. Mit einem ökumenischen Gottesdienst beginnen im Beisein von Spitzenpolitikern am Morgen die zentralen Gedenkfeierlichkeiten in der Hauptstadt zum Ende des Zweiten Weltkriegs am 8. Mai 1945.
“80 Jahre Frieden hierzulande – das ist wahrhaft Anlass zum Dank”, sagt der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Bischof Georg Bätzing. Zugleich dürfe man nie die Millionen Kriegstoten vergessen und das unfassbare Leid der Jüdinnen und Juden. Die Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Bischöfin Kirsten Fehrs, betont: “Fassungslosigkeit und Entsetzen bleiben. Auch nach 80 Jahren. Die Toten klagen an. Die Überlebenden haben uns ihr Erinnern anvertraut.”
Bei einer Gedenkstunde im Bundestag warnt Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier vor Geschichtsvergessenheit: Er selbst wundere sich manchmal, so Steinmeier, über die Hartnäckigkeit, “mit der manche, leider auch in diesem Hause, einen sogenannten ‘Schlussstrich’ unter unsere Geschichte und unsere Verantwortung fordern.” Auch Bundestagspräsidentin Julia Klöckner kritisiert: “Das ungeheuerliche Ausmaß der deutschen Verbrechen ist bis heute nicht allen bewusst. Oder schlimmer noch: Viele wollen sich damit gar nicht mehr beschäftigen. Dieser Tendenz entgegenzuwirken – auch dazu dient das Gedenken am 8. Mai.”
Auf der Tribüne im Bundestag verfolgt neben Spitzenvertretern aus Kirchen und Diplomatie das Geschehen unter anderem eine heute 82 Jahre alte Frau, deren Mutter vor ihren Augen im Sommer 1945 an der Grenze zwischen Deutschland und Tschechien vergewaltigt worden war. Sie hatte Klöckner davon geschrieben und die Bundestagspräsidentin darum gebeten, zum 80. Jahrestag des Kriegsendes an die Frauen zu erinnern, “die Opfer von sexualisierter Kriegsgewalt wurden und bis heute im Rahmen kriegerischer Konflikte Opfer von Gewalt werden, weil sie Frauen sind”.
Der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, würdigt in der “Süddeutschen Zeitung” die Erinnerungskultur, erkennt aber auch Schwächen. Wenn 15 Prozent der jungen Menschen in Deutschland heute glaubten, die Nationalsozialisten hätten nicht sechs, sondern zwei Millionen Jüdinnen und Juden ermordet, seien die Schulen gefordert. “Aber auch die Gesellschaft insgesamt.”
Laut einer Umfrage von infratest dimap für den ARD-Deutschlandtrend ist fast ein Viertel der Befragten (23 Prozent) der Ansicht, dass in Deutschland zu viel an die NS-Verbrechen erinnert werde. Die Hälfte der Menschen hierzulande hält das Erinnern an die Verbrechen der Nationalsozialisten für weiter angemessen. Gut jeder Fünfte (22 Prozent) fordert demnach ein größeres Ausmaß des Gedenkens.
Maximilian Becker wünscht sich, dass sich die Lehren aus der Vergangenheit nicht nur in Denkmälern und Ritualen widerspiegeln, sondern auch die Herzen der Menschen erreichen. Der 20-Jährige studiert Staatswissenschaften in Passau und ist einer von rund 200 jungen Leuten aus aller Welt, die an dem von der Bundeszentrale für politische Bildung organisierten Treffen “histoCON – Junge Perspektiven auf die globalen Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs” teilnehmen.
Jeder von ihnen hat ein Foto mitgebracht, das stellvertretend für persönliche Erinnerungen an den Krieg steht. Am Donnerstag besucht Bundespräsident Steinmeier die histoCON. Maximilian Becker zeigt ihm das Foto eines leeren Koffers. “Da haben wir immer unsere Legosteine aufbewahrt”, sagt der Student. Eines Tages habe er erfahren, dass dieser Koffer seinen Urgroßeltern gehörte. Sie bewahrten darin die letzten Habseligkeiten auf, die ihnen nach einem Bombenangriff noch blieben. Steinmeier ermutigt dazu, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen. “Wir wollen in einer friedlichen und freien Welt leben. Deswegen brauchen wir junge Leute wie euch.”
Am Abend findet in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche nochmals ein Gedenkgottesdienst mit den Berliner Bischöfen und jüdischen Vertretern statt. Im Anschluss werden die Glocken 15 Minuten lang läuten: für den Frieden.