„Wir schaffen das“ – dieser Satz ist so etwas wie Angela Merkels Glaubensbekenntnis. Der Satz der ehemaligen Bundeskanzlerin hat Geschichte geschrieben und steht in ihren aktuell erschienenen politischen Erinnerungen im Mittelpunkt. Ohne ihre langjährige Büroleiterin Beate Baumann wäre das Buch wohl kaum entstanden. In praktisch alle politischen Entscheidungen bezog die Kanzlerin sie ein und nun haben beide ein 736 Seiten starkes Buch vorgelegt: Rechenschaft und politische Verteidigung zugleich. Zu weiten Teilen wohl geschrieben im Strandhotel Fischland auf dem Darß an der Ostsee.
Doch mehr noch: Der Satz „Wir schaffen das“ ist Ausdruck einer Haltung, „man kann sie Gottvertrauen nennen“, Zuversicht oder Entschlossenheit, Probleme zu lösen, schreibt Merkel.
Angela Merkel wurde Gemeindeglied der Berliner Gethsemanekirche
Etwas im Dunkeln bleibt, weshalb ihr Vater nach einem Theologiestudium und als Vikar in Hamburg mit der Familie in die sowjetische Besatzungszone zurückkehrt: als Leiter des Pastoralkollegs der Berlin-Brandenburgischen Kirche in Quitzow bei Templin. Doch das Land wird der Heranwachsenden schnell zur Heimat und sie weiß sich in den Alltagsanforderungen des sozialistischen Staates geschickt zu bewegen. Ihr gelingen die Schulabschlüsse und das Studium der Physik in Leipzig. Dann arbeitet die junge Frau als Wissenschaftlerin an der Humboldt-Universität zu Berlin und wird Gemeindeglied der Berliner Gethsemanekirche.
Die Friedliche Revolution 1989 wirft ihr ganzes Leben um: Angela Merkel wandelt sich zur Politikerin im Demokratischen Aufbruch (DA) und schon bald in der CDU. Auf dem Weg zur Kanzlerin überwindet sie viele Hürden.
Angela Merkels Eid als Kanzlerin
Ein Politikerinleben kennt viele Routinen: So schreibt die Protestantin Merkel, der Deutsche Evangelische Kirchentag (DEKT) gehöre mit Bibelarbeit und Diskussionsrunden hinzu und spart bei ihrem Lob den Katholikentag nicht aus.
Bei ihrer Vereidigung als Bundeskanzlerin 2005, erwähnt sie, der Eidesformel die Worte „So wahr mir Gott helfe“ hinzugefügt zu haben: „Ich glaube daran, dass es Gott gibt, auch wenn ich ihn oft nicht direkt erfassen oder erfühlen kann. Da ich weiß, dass ich nicht vollkommen bin und Fehler mache, hat der Glaube mir das Leben und auch meinen Auftrag leichter gemacht.“
Angela Merkel verteidigte Artikel 1 des Grundgesetzes
Das Bekenntnis zu Gott öffentlich ausgesprochen zu haben, habe ihr geholfen, sich bei schwierigen Entscheidungen behütet zu fühlen. 16 Jahre lang oder 5860 Tage habe sie gespürt, „dass etwas existierte“ das ihr stets Halt gegeben habe. Einen großen Raum in der Neuerscheinung nehmen die Flüchtlingsströme im Jahr 2015 ein: Merkel schildert, wie sie ohne Wenn und Aber auf den Artikel 1 des Grundgesetztes bestanden habe: Die Würde des Menschen ist unantastbar. „Gleichgültig, ob er Staatsbürger ist oder nicht, gleichgültig, woher und warum er zu uns kommt und mit welcher Aussicht darauf, am Ende eines Verfahrens als Asylbewerber anerkannt zu sein – wir achten die Menschenwürde jedes Einzelnen.“
Zur Frage, ob Deutschland das schaffen könne, habe sie damals Journalisten gesagt: Deutschland ist ein starkes Land. „Das Motiv muss sein: Wir haben so vieles geschafft – wir schaffen das!“ Sie resümiert: Am Ende sei eine solidarische Verteilung von Flüchtlingen in Europa gescheitert.
“Großer Gotte, wir loben Dich”: Kirchenlied zum Zapfenstreich
Von einem „humanitären Imperativ“ wie Merkel das nennt, ist die Kanzlerin nie abgewichen: Sie ist 1990 in die Politik gegangen, „weil mich Menschen interessierten. Menschen, keine Ströme oder anonymen Massen“. Deshalb war ihr Bekenntnis auf einer Pressekonferenz richtig: „Ich muss ganz ehrlich sagen: wenn wir jetzt noch anfangen müssen, uns dafür zu entschuldigen, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land.“
Am 2. Dezember 2021 endet Merkels politische Laufbahn: Mit einem Zapfenstreich wird sie im Berliner Bendlerblock militärisch verabschiedet. Merkel wählt dazu Musikstücke aus, die noch einmal ihre kirchliche Verbundenheit zeigen: „Großer Gott, wir loben dich“, sie nennt es ein ökumenisches Kirchenlied, Hildegard Knefs „Für mich soll’s rote Rosen regnen“ und ein „Ohrwurm aus der DDR“ von Nina Hagen: „Du hast den Farbfilm vergessen.“ Die Bundeskanzlerin a.D. zum Schluss: „Ich hatte meinen Weg in die Freiheit gefunden.“
Angela Merkel mit Beate Baumann: Freiheit. Erinnerungen 1954–2021, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2024