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Wegen Mängeln bei Notfallversorgung: Stiftung klagt in Karlsruhe

Seit Jahren fordern Experten grundlegende Reformen im Rettungswesen. Jetzt zieht die Steiger-Stiftung vor das Bundesverfassungsgericht.

Es ist ein dramatisch schlechtes Zeugnis für den Rettungsdienst in Deutschland. Obwohl Notärzte und Rettungskräfte vorbildlich ausgebildet seien, befinde sich die Bundesrepublik bei der Notfallrettung organisatorisch auf dem “Niveau eines Entwicklungslandes”, kritisiert der Präsident der Björn Steiger Stiftung, Pierre-Enric Steiger. Kein Bundesland habe einen guten Rettungsdienst, ausgenommen einzelne Leuchtturmprojekte, sagte er am Donnerstag in Berlin. Kaum eine der 230 Leitstellen verfüge über ausreichende digitale Systeme. Oftmals seien die Mauern zwischen den Landkreisen “dicker als die Berliner Mauer es je war”, so Steiger weiter.

Steiger hat deshalb mit seiner Stiftung am Donnerstag Verfassungsbeschwerde in Karlsruhe eingelegt: Gegen den Bund, der für die Rahmengesetzgebung im Rettungsdienst zuständig ist und der seine Steuerungsverantwortung nicht wahrnehme. Und, stellvertretend für alle Bundesländer, gegen Baden-Württemberg und sein Rettungsdienstgesetz.

“Die Menschen in Deutschland haben ein Grundrecht auf ein flächendeckendes, einheitliches und qualitativ hochwertiges Rettungsdienst-System”, sagte Steiger, dessen Stifung sich seit Jahrzehnten für das Rettungswesen in Deutschland einsetzt und die einheitlichen Notrufnummern 110 und 112 mit durchgesetzt hat. Das Rettungswesen in Deutschlands habe einst zu den modernsten derWelt gehört. Doch seit den 70er Jahren Stillstand: Europäische Nachbarn wie Österreich, die Niederlanden oderskandinavische Länder verfügten hingegen über moderne Leitstellen samt Digitalisierung und modernen Kommunikationssystemen.

Der frühere Präsident der Bundesärztekammer, Frank Ulrich Montgomery, kritisierte, in Deutschland hänge es von der Postleitzahl ab, ob und wie schnell man gerettet werde. Es gebe 16 verschiedene Rettungsdiensgesetze. Die verpflichtenden Einsatzfristen seien von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich: In Hamburg gebe es keinerlei Vorgaben, in Thüringen seien für Städte 14 Minuten und für ländliche Regionen maximal 17 Minuten vorgegeben – bei Herzstillstand könnten aber schon 5 Minuten ausbleibender Hilfe zu großen Schäden führen.

Dass bei den Rettungsdiensten derzeit einiges im Argen liegt, hatte im vergangenen Sommer auch eine umfangreiche Recherche des SWR belegt. Tausende von Todesfällen durch plötzlichen Herz-Kreislauf-Stillstand könnten jährlich durch bessere Strukturen vermieden werden, hieß es unter Berufung auf eine umfangreiche Datenrecherche. Ein Schwachpunkt sind die bundesweit rund 230 Leitstellen. Sie müssen schnell etwa einen Herz-Kreislauf-Stillstand erkennen, Rettungsdienst und Ersthelfer alarmieren und am Telefon zur Herzdruckmassage anleiten. Doch es fehlt an technischer und personeller Ausstattung sowie an einheitlichen Qualitätsvorgaben.

Seit Jahren debattieren Politik und Gesundheitswesen über die Notfallrettung. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) hatte zuletzt eine Reform in Angriff genommen, um bundesweit einheitliche Mindeststandards für die Rettungsdienste einzuführen. Die Notrufnummer 112 und die ärztliche Bereitschaftshotline 116117 sollten zusammengeschaltet werden. Das Vorhaben scheiterte mit dem Ende der Ampel-Regierung.

Zusätzlich zu den organisatorischen Mängeln beklagen Experten eine starke Fehlsteuerung der Patienten in Notfällen. Rettungsdienste und Notaufnahmen der Krankenhäuser berichten von Überlastung und Fehlalarmen. Zunehmend werde das Rettungswesen von Bagatellerkrankungen in Anspruch genommen.

Im Argen liegt auch die Ausbildung von Ersthelfern: “Das Überleben einer Person hängt also maßgeblich davon ab, dass Laien umgehend Wiederbelebungsmaßnahmen einleiten und dieses kritische Zeitfenster überbrücken”, heißt es bei der Steiger Stiftung mit Blick auf plötzliche Herz-Stillstände. Notwendig seien mehr Erste-Hilfe-Kurse, die gezielte Ausbildung von Ersthelfern und die Einführung von Notfall-Apps, mit deren Hilfe ehrenamtliche Ersthelfer schnell über bestimmte Notfälle in ihrer unmittelbaren Nähe informiert und dorthin navigiert werden können.