3.000 Kilometer mit dem Rad: Ein Jahr lang ist der politische Journalist und Bestsellerautor Hasnain Kazim kreuz und quer durch Deutschland gefahren und hat dabei mit vielen Menschen gesprochen. Dem 49-Jährigen, der im Alten Land zwischen Hamburg und Stade aufgewachsen ist, ging es dabei um das gesellschaftliche Miteinander. Darüber hat er ein Buch unter dem Titel „Deutschlandtour“ geschrieben, das er bei Lesungen und am kommenden Sonntag bei einem kirchlichen Empfang in Stade vorstellt. Zuvor sprach der Autor, der in Wien lebt, mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) über Wut auf die Politik, konstruktiven Streit und den Wert von Gesprächen von Angesicht zu Angesicht.
epd: Herr Kazim, Sie sind an Flüssen entlang mit dem Rad durch Deutschland gefahren und haben darüber unter dem Titel „Deutschlandtour“ ein Buch geschrieben. Was war Ihr Ziel? Und warum mit dem Rad?
Hasnain Kazim: Ich wollte herausfinden, was Deutschland und die Menschen im Land eint. Dafür war ich mit Unterbrechungen ein Jahr unterwegs, entlang von Elbe, Ruhr, Rhein, Oder und Neiße, Neckar und Donau. Ich habe immer eine Tour gemacht und bin dann wieder mit dem Zug nach Hause nach Wien gefahren. Das Fahrrad habe ich genommen, weil es einen großen Vorteil hat: Man ist einerseits schnell genug, um Strecke zu machen. Und andererseits langsam genug, um mit Leuten ins Gespräch zu kommen – beispielsweise über die Frage, ob die Gesellschaft wirklich so gespalten ist, wie es so oft heißt. Und wie steht es um den Extremismus, um Rechtsruck, „Öko-Diktatur“ und „Klimafaschismus“?
epd: Was für einen Eindruck haben Sie gewonnen?
Kazim: Mit Blick auf die in Teilen rechtsextreme AfD sehen wir ja tatsächlich Wahlergebnisse von 30 Prozent und mehr. Es gibt einzelne Orte, durch die ich gefahren bin, da hat die AfD eine Zustimmung von 50 Prozent. Aber ich wollte nicht glauben, dass bis zu 50 Prozent der Menschen rechtsextrem sind.
epd: Und, sind sie es?
Kazim: Meine Hauptkritik halte ich aufrecht: Menschen, die diese Partei wählen, wählen damit Rechtsextremisten auf demokratischem Weg an die Macht. Ich bin mir aber nicht mehr so sicher, ob die Leute wissen, wen sie da wählen. In vielen Gesprächen habe ich gehört, dass sich Menschen damit nicht beschäftigt haben. Oder sie glauben nicht, dass die AfD rechtsextrem ist. Oder ihre Wut auf die anderen Parteien und ihr Frust darüber, wie Politik gemacht wird, ist größer als die Befürchtung, dass die AfD Schaden anrichten könnte. Ich habe Menschen getroffen, die Zukunftsängste haben. Mein Eindruck war, dass man mit ihnen reden kann und dass es sich auch lohnt, zu reden, weil ich glaube, dass man sie wieder für das Demokratische gewinnen kann.
epd: Sie rufen im Zusammenhang mit den dafür notwendigen gesellschaftlichen Debatten dazu auf, Maß und Mitte zu halten. Was heißt das für Sie?
Kazim: Das heißt für mich grundsätzlich, alle Seiten zu hören und nicht jemanden, der eine andere Meinung hat, sofort als Feind zu sehen – abgesehen natürlich von Extremisten. Die Demokratie hat einen weit gefassten Rahmen, von links bis rechts. Das sollte man sich alles anhören. Um kluge Lösungen zu finden, brauchen wir Maß und Mitte. Beispiel Migration: Die einen fordern, alle Grenzen abzuschaffen, die anderen wollen niemanden mehr reinlassen. Wenn da nicht eine Politik mit Maß und Mitte gemacht wird, frustriert das Menschen und sie wählen extrem.
epd: Woher kommt denn konkret der politische Frust, was haben Sie in Ihren Gesprächen erfahren?
Kazim: Da kam oft, Politik und Medien verbreiteten eine ideologisch getriebene großstädtische, meist auch hauptstädtische und akademische Sicht auf die Dinge. Das betreffe nicht ihre Lebensrealität. Als Beispiele wurden unter anderem das Gendern und die Art und Weise der Klimaproteste genannt. Themen wie die Arztversorgung auf dem Land, die Anbindung durch den öffentlichen Personennahverkehr oder auch fehlender leistbarer Wohnraum seien dagegen unterbelichtet, die Kritik habe ich immer wieder gehört.
epd: Haben Sie sich vor dem Hintergrund all dieser Konflikte auf Ihrer Reise irgendwo unwohl gefühlt?
Kazim: Ganz eindeutig: Nein. Das ist für mich eine große Überraschung, denn damit habe ich gerechnet. Ich mache mir keine Illusionen: Es gibt rechtsextreme Strukturen und es kann sicherlich sehr unangenehm werden, wenn man als fremd wahrgenommen wird. Aber ich hatte auf meinen 3.000 Kilometern zum Glück keine negativen Erlebnisse.
epd: Sie haben auf Ihrer Tour ja nach dem gesucht, was das Land zusammenhält. Was haben Sie gefunden?
Kazim: Das hat für mich viel mit dem Begriff der Leitkultur zu tun, der politisch leider missbraucht wurde und dann etwas Ausgrenzendes hat. Was uns eint, lässt sich nicht mit einem Wort benennen. Ich sehe fünf Punkte: Es ist unsere Sprache, unsere Kultur in all ihren Facetten, unsere Geschichte, unsere vielfältige Küche und die Religion, das Christentum, das allerdings eine immer kleinere Rolle spielt.
epd: Sie erwähnen die Sprache als erste Säule. Aber gerade Sprache spaltet, besonders wenn sie benutzt wird für Hassbotschaften und Anfeindungen…
Kazim: Das stimmt, das ist immer eine Gratwanderung. In einer Demokratie gehört Streit dazu – mit Argumenten, um am Ende eine Lösung zu finden, einen Kompromiss. Viele Menschen glauben heute, nur wenn sie ihren Willen zu 100 Prozent durchsetzen, wäre das eine Lösung, alles andere wäre nicht gut. Das Gegenteil gilt. In einer Demokratie ist der Kompromiss das Normale. Wir müssen viel mehr auf unsere Sprache achten und uns im Klaren darüber sein, dass Sprache auch eine Waffe sein kann. Es kann verletzen, wie wir sprechen, was wir sagen. Es gibt aber auch kein Recht auf Freiheit vor Widerspruch. Man kann alles sagen, muss dann aber auch damit rechnen, dass man kritisiert wird.
epd: Gibt es ein Resümee ihrer Tour?
Kazim: Ich habe herausgefunden: Ja, es gibt einen Bogen, der uns zusammenhält. Der ist sehr groß und da passt viel drunter, manches definitiv auch nicht. Die Vielfalt macht dieses Land schön. Was ich auch beantwortet bekommen habe: Mit den meisten Menschen kann man sehr gut reden, von Angesicht zu Angesicht. Das passiert nur zu selten. Ich glaube, wir müssen wieder viel mehr und konstruktiv miteinander reden. Dann können wir viele Dinge lösen. Man muss sich eben auch andere Meinungen anhören, nicht nur aushalten, sich fragen: Ist die eigene Position noch richtig oder nicht? Und sie dann möglicherweise ändern.