Aus dem Krisengebiet zur Maurerlehre – Sidad ist vor drei Jahren als Jugendlicher aus dem Irak geflohen. Er konnte in Deutschland Fuß fassen. Was unbegleitete Flüchtlinge brauchen, damit Integration gelingt.
Sidad ist 16 Jahre alt, als er 2021 zusammen mit seinem zwei Jahre älteren Bruder sein Dorf im Norden des Irak verlässt. Die beiden Jungen sind Kurden, sie sehen keine Zukunft für sich in dem Land, das seit Jahrzehnten unter Krieg, Krisen, Korruption und Klimawandel leidet. Sidads Mutter hat insgesamt neun Kinder, der Vater sei verstorben. Als er seiner Mutter mitgeteilt habe, dass er nach Deutschland gehen wolle, habe sie ihn nicht zum Bleiben gedrängt, erzählt Sidad.
Heute lebt der inzwischen 19-Jährige in einer Wohngemeinschaft des Johann-Peter-Hebel-Heims, zusammen mit zwei weiteren jungen Männern. Vor ein paar Monaten hat Sidad bei einer kleinen Mannheimer Baufirma eine Lehre zum Maurer begonnen. “Ich wäre lieber Tunnelbauer geworden, aber da habe ich keine Zusage bekommen”, sagt Sidad in fast perfektem Deutsch. Er sitzt neben dem Bereichsleiter seiner ehemaligen Wohngruppe, Christoph Mouysset; die Stadt hat das Treffen mit der Journalistin organisiert. Nur fotografiert werden möchte Sidad keinesfalls.
Jedes Jahr erreichen Deutschland zehntausende unbegleitete minderjährige Flüchtlinge – und es werden mehr. Laut Statistischem Bundesamt wurden 2023 fast 40.000 Kinder und Jugendliche, die allein aus ihren Heimatländern, vorwiegend Afghanistan und Syrien geflohen waren, von den Jugendämtern der Städte in Obhut genommen. Das waren rund 10.000 mehr als im Jahr zuvor. Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, abgekürzt UMA, genießen besonderen Schutz; sie müssen nicht in ein Flüchtlingslager, sondern werden vom Jugendamt betreut; für eine Abschiebung gibt es zudem hohe Hürden.
Traurige Bekanntheit erlebte die Gruppe der UMA zuletzt durch die blutigen Angriffe in München und Berlin: Die Täter waren – nach allem, was bekannt ist – einst als unbegleitete minderjährige Flüchtlinge nach Deutschland gekommen.
Sidad hat eine klare Meinung zu den Taten: “Wer straffällig wird, wer sich nicht an Regeln hält, darf nicht bleiben, und die Regeln müssen die Menschen in Deutschland aufstellen.” Er selbst habe immer davon geträumt, mehr zu erreichen, als ihm seine Heimat bieten könne, er wolle lernen, etwas werden, eine gute Zukunft haben.
Als er im Sommer 2021 in Münster ankommt, liegen mehrere Wochen Flucht hinter ihm und seinem Bruder. Sie seien zunächst in die Türkei, dann nach Belarus geflogen. Von dort seien sie zu Fuß an die Grenze zu Polen gelaufen. Es habe mehrere Versuche gegeben, sie und andere Geflüchtete von einem Übertritt abzuhalten. “Wir mussten uns in einer Reihe aufstellen und dann haben die Soldaten uns ins Gesicht geschlagen”, sagt Sidad.
Also versuchen sie es an anderen Grenzposten, und irgendwann gelingt es ihnen, nach Polen einzureisen. Dort wartet der Bus, den Schleuser organisiert haben, auf die Gruppe und bringt die Menschen weiter bis nach Deutschland. Von Münster gelangt Sidad nach Bochum, dann nach Heidelberg und schließlich nach Mannheim, wo ihn die Bundespolizei aufgreift.
Rein rechnerisch passiert es hier fast jeden Tag, dass unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, die in Zügen oder Bussen ankommen oder sich im Stadtgebiet aufhalten, dem Jugendamt übergeben werden. “Es bleibt dem Zufall überlassen, wo der UMA anlandet und sich das Jugendamt in einem ersten Schritt kümmert”, sagt Florian Peter, Sachgebietsleiter des UMA-Teams im Mannheimer Jugendamt.
Die Erstversorgung des Jugendamtes umfasst eine Unterbringung in einer Notaufnahmegruppe der Jugendhilfe sowie eine ärztliche Untersuchung durch das Gesundheitsamt. Außerdem werden Fingerabdrücke bei Polizei und Ausländerbehörde genommen, um die Identität erkennungsdienstlich festzustellen und Hinweise zu erhalten, ob die Person schon einem anderen Landkreis zugewiesen wurde.
Weil oft keine Ausweispapiere vorliegen, wird das Alter in der Regel geschätzt; das passiert in einem sogenannten qualifizierten Alterseinschätzungsverfahren, an dem unter anderem Sozialarbeiter und ein Dolmetscher beteiligt sind. Das Ergebnis kann weitreichende Folgen haben: Wird das Alter (fälschlicherweise) zu hoch angesetzt, wird aus dem Jugendlichen ein Erwachsener und der besondere Schutz entfällt.
Nach der Erstversorgung kommen die minderjährigen Flüchtlinge, sofern sie nicht dem bundesweiten Verteilverfahren unterliegen und deshalb in eine andere Stadt verlegt werden müssen, in vollstationäre Wohngruppen in Heimen. Es folgen Sprachkurse, die Unterbringung in einer Schule mit extra Klassen für Menschen ohne Deutschvorkenntnisse, die Suche nach einem Job, der Antrag auf Asyl. Um das Asylverfahren sowie alle weiteren sorgerechtlichen Belange kümmert sich ein vom Familiengericht bestellter Vormund.
Das Einleben im Heim, das Zusammenleben in der WG, überhaupt das Leben in einem fremden Land stellt eine große Herausforderung dar. “Die jungen Menschen kommen aus unterschiedlichen Ländern, sie sprechen andere Sprachen, haben auf der Flucht vieles erlebt”, sagt Mouysset. Immer mal wieder komme es zu Konflikten, auch körperlichen Auseinandersetzungen. “Es ist nicht immer einfach, die jungen Leute auf den richtigen Weg zu bringen.” Die Frustration, wenn es nicht vorwärts geht, sei hoch, und oft komme die Auseinandersetzung mit dem Erlebten zu kurz. “Hilfe anzunehmen, fällt schwer, das ist für die jungen Männer mit Scham behaftet.”
Schnell werden aus den Jugendlichen formell Erwachsene. “Die meisten sind mit 18 Jahren aber noch nicht so weit, um auf eigenen Beinen zu stehen, mal abgesehen davon, dass bezahlbare Wohnungen fehlen, in die sie ziehen könnten”, betont Mouysset. So werden die UMA in den meisten Fällen weiter von der Jugendhilfe betreut – bis längstens zum 21. Lebensjahr.
Immer wieder kommt es vor, dass Jugendliche zur Verwandtschaft nach Deutschland geschickt werden. “Doch dann sagt zum Beispiel der Onkel, wenn der Neffe vor der Tür steht: ‘Ich kann dir nicht helfen’ und bringt ihn zu uns ins Jugendamt”, sagt Florian Peter. Das Jugendamt versucht in jedem Fall, mit den Eltern in der Heimat Kontakt aufzunehmen, doch häufig wollten die Jugendlichen das nicht. Und wenn es dann doch ein Telefonat gibt, sagten die Eltern: “Lassen Sie unser Kind bitte in Deutschland.”
Peter weiß, dass die jungen Flüchtlinge vor großen Herausforderungen stehen. Er sagt aber auch: “In den überwiegenden Fällen gelingt ein Weg, und die jungen Menschen integrieren sich gut in unsere Stadtgesellschaft.”