Lange wurde darüber spekuliert, nun hat der Grünen-Politiker Özdemir seinen Hut in den Ring geworfen. Falls er Ministerpräsident in Baden-Württemberg werden sollte, wäre er der erste Landesvater mit türkischen Wurzeln.
Er bezeichnet sich selbst als “anatolischen Schwaben” und schwäbelt sehr gerne. Künftig könnte er das noch häufiger tun als im politischen Berlin, wo das schon mal zu Missverständnissen führen kann. Seit Freitag ist es offiziell: Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir (Grüne) will zurück ins Ländle und Ministerpräsident von Baden-Württemberg werden. Der 58-Jährige wird als Grünen-Spitzenkandidat bei der Landtagswahl im Frühjahr 2026 antreten.
In einem am Freitag veröffentlichten Brief an die Bevölkerung schreibt Özdemir: “Meine Entscheidung steht: Ich möchte Ihnen, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, als Ministerpräsident von Baden-Württemberg dienen und alles für dieses Land geben.” Özdemir will damit Nachfolger von Winfried Kretschmann (76) werden, der seit 2011 als erster und bisher einziger Grünen-Regierungschef eines Bundeslandes amtiert. Falls Özdemir das schafft, wäre das ein weiteres Novum: ein Landesvater mit türkischen Wurzeln.
Wie der Katholik Kretschmann ist auch Özdemir religiös geprägt. Er wuchs in einem muslimischen Elternhaus auf, bezeichnet sich inzwischen aber als nicht praktizierenden Muslim und war vor sechs Jahren Mitbegründer einer Initiative für liberale Muslime.
Die Ausgangslage in Baden-Württemberg ist für ihn zwar alles andere als einfach. Doch: “Er hat bewiesen, dass er Rückgrat hat und auch vor schwierigen Herausforderungen nicht zurückschreckt”, erklärte Kretschmann am Freitag. “Ich bin überzeugt, dass er mit seinem Weitblick und seiner Tatkraft ein sehr guter Ministerpräsident für unser Land sein kann.”
Bei den Grünen machte Özdemir, dessen Eltern Anfang der 1960er Jahre aus der Türkei nach Deutschland gekommen waren, schnell Karriere: Bereits mit 16 Jahren trat er der Partei bei. Genau vor 30 Jahren schaffte er – der innerhalb der Partei dem Realo-Flügel zugeordnet wird – erstmals den Sprung in den Bundestag, um diesen dann 2002 abrupt zu verlassen, unter anderem weil bekannt wurde, dass er dienstlich erworbene Bonusmeilen privat verflogen haben soll.
Sein Weg führte dann in das EU-Parlament, schließlich gelang ihm 2008 der Sprung an die Parteispitze. Abgelöst wurden er und seine damalige Kollegin Simone Peter 2018 schließlich vom Duo Robert Habeck und Annalena Baerbock.
2021 wurde der Vegetarier schließlich Bundesminister für Ernährung und Landwirtschaft. Und zeigte dabei, wie man medienwirksam Themen setzt. Etwa, als er im April 2024 das Cafe “Raupe Immersatt” in Stuttgart besuchte. Dort wurde er – natürlich nach Vorankündigung – von zahlreichen Kamerateams erwartet, die sich nicht nur dafür interessierten, dass sich das einst bundesweit erste Foodsharing-Cafe seit 2019 gegen die Verschwendung von Lebensmitteln engagiert. Auf die Journalistenfrage, warum er gerade hier sei, hielt sich Özdemir damals noch zurück: “Weil ich mit Stuttgart den schönsten Wahlkreis überhaupt habe.”
In seinem Brief an die Bürger schrieb Özdemir nun, als würde ihn niemand kennen: “Mein Name ist Cem Özdemir. Ich bin in Bad Urach, am Fuße der Schwäbischen Alb, geboren und aufgewachsen.” Seine Karriere war alles andere als vorbestimmt: In der Schule trauten ihm seine Lehrer die höhere Schule nicht zu. Özdemir biss sich durch, machte Abitur und studierte schließlich Sozialpädagogik an einer evangelischen Fachhochschule.
Berührungsängste mit den Kirchen hat er nicht. Bereits in der Grundschule schickte ihn seine Mutter mit der Begründung, der Unterricht werde ihm nicht schaden, in den evangelischen Religionsunterricht. Wie Özdemir in einem Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) außerdem einmal erzählte, habe ihn der Unterricht tatsächlich fasziniert. Auch in einer christlichen Jugendgruppe war er lange aktiv. Seinen beiden Kindern versucht Özdemir, Islam und Christentum nahezubringen.
Besonders nach dem Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober 2023 auf Israel äußerte er sich kritisch gegenüber traditionellen Islamverbänden. Und mit seiner Aussage, dass seine Tochter zuletzt immer häufiger von Männern mit Migrationshintergrund angesprochen worden sei, sorgte er auch bei den Grünen für Irritation. Als er für härtere Regeln in der Asyl- und Migrationspraxis eintrat, werteten das schon viele als eine Bewerbung für die Spitzenposition in Baden-Württemberg, wo die Grünen traditionell konservativ sind.