Das Predigerseminar in der Lutherstadt Wittenberg ist eine der ältesten Einrichtungen dieser Art in Deutschland. Seit 1817 werden dort Vikare, also angehende evangelische Pfarrerinnen und Pfarrer, ausgebildet. Aktuell bilden die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz, die sächsische Landeskirche, die Evangelische Kirche in Mitteldeutschland sowie die anhaltische Kirche ihren Nachwuchs aus. Nachdem die sächsische Landeskirche ihren Austritt aus dem Seminar erklärt hat und die Union Evangelischer Kirchen (UEK) als Träger ausscheiden will, kommen Fragen nach der Zukunft der Traditionseinrichtung auf. Birgit Neumann-Becker leitet das Predigerseminar seit Juni dieses Jahres – und sieht weiterhin eine Zukunft für die Einrichtung am Ursprungsort der Reformation.
epd: Frau Neumann-Becker, seit Juni sind Sie Leiterin des Wittenberger Predigerseminars. Das ist eine ganz neue Aufgabe – vorher waren Sie Landesbeauftragte in Sachsen-Anhalt für die SED-Aufarbeitung. Ist das für Sie als Pfarrerin eine Rückkehr zu Ihren Wurzeln?
Birgit Neumann-Becker: Ja, in doppelter Hinsicht. Wittenberg ist für mich ein wichtiger Ort. Ich bin dort 1989/90 im Predigerseminar gewesen und habe das für mich als eine sehr wichtige und prägende Zeit empfunden. Somit bin ich zu meinen Wurzeln zurückgekehrt. Ich habe mich als Landesbeauftragte auch darauf gefreut, wieder in den Pfarrdienst zurückzukehren, ohne genau zu wissen, an welcher Stelle ich Dienst tun werde. Dass es Wittenberg wurde, freut mich natürlich ganz besonders.
epd: Ist es etwas Besonderes, in Wittenberg zu arbeiten, sozusagen der Hauptstadt der Reformation?
Neumann-Becker: Ganz bestimmt. Das Predigerseminar ist ja eine besondere Einrichtung. Für mich und für viele andere, die dort waren, war diese Zeit ganz besonders prägend. Ich habe in diesen Tagen eine E-Mail von einem ungarischen Theologen erhalten, der in den 1970er Jahren im Predigerseminar gewesen ist. Er sagt, Wittenberg habe ihm einen starken Start für seine theologische Laufbahn gegeben, für den er seit 50 Jahren dankbar sei. Im Grunde geht es mir ähnlich: Die Auseinandersetzung über theologische Fragen oder das Verständnis vom Pfarramt, über das Berufsbild mit seinen vielen Ausprägungen – all das haben wir bereits 1989/90 stark diskutiert. Ich war auch in der Gruppe mit dabei, die die Gebete um Erneuerung in der Schlosskirche mit vorbereitet hat. Für diese Zeit bin ich sehr dankbar – und erlebe jetzt, dass diese Zeit für die nächste Generation den Zeiterfordernissen anzupassen ist, aber auch für sie eine Zeit wichtiger Kontakte und Gespräche ist.
epd: In der katholischen Kirche ist oft die Rede vom Priestermangel. Wie sieht es bei Ihnen aus – gibt es genügend Pfarrernachwuchs, oder hat der viel zitierte Fachkräftemangel auch die evangelische Kirche erreicht?
Neumann-Becker: Ja, er hat uns erreicht. Und wir erleben den demografischen Umbruch, der bei uns begonnen hat. Kolleginnen und Kollegen gehen in den Ruhestand und lassen Lücken. Durch Personalplanungen werden Pfarrbereiche größer, zudem werden weniger Stellen ausgefüllt werden wie früher. Im Predigerseminar sind wir aber gut ausgelastet. Im kommenden Jahr erwarten wir 47 Vikarinnen und Vikare. Nach dem, was wir wissen, ist für die kommenden Jahre die Zahl der zu erwartenden Vikare stabil.
epd: Das Predigerseminar hat eine lange Tradition, es ist die älteste Einrichtung dieser Art in Deutschland. Dennoch verändern sich die Ansprüche an künftige Pfarrerinnen und Pfarrer. Was hat sich in der Pfarrerausbildung verändert, worauf wird heute besonders Wert gelegt?
Neumann-Becker: Was sehr viel größeren Raum einnimmt, ist die Ausbildung in Seelsorge und im schulischen Religionsunterricht. Die Vikare erwerben das Recht, evangelischen Religionsunterricht an öffentlichen Schulen unterrichten zu dürfen. Das sind wichtige Schwerpunkte, die da gesetzt worden sind. Wir mussten diese Qualifikationen früher nachträglich erwerben. Es gibt aber auch viel Konstantes, zum Beispiel die Reflexion dessen, was den Vikaren im Laufe ihres Gemeindepfarramtes begegnen wird, welche Aufgaben sich ihnen stellen.
epd: Ausgebildet werden in Wittenberg künftige Geistliche in Ost- und Mitteldeutschland, einer der am stärksten entkirchlichten Regionen Europas. Wie wird das in der Ausbildung berücksichtigt?
Neumann-Becker: Wir arbeiten an Fragen aus konkreten Situationen in der Gemeinde, in der Seelsorge, in der Leitung, auch in der Struktur der Arbeit. Dieser sehr konkrete Praxisbezug schließt immer auch diese Perspektive ein, dass die meisten Menschen in Ostdeutschland schon seit mehreren Generationen der Kirche entfremdet sind. Dies ist als Diktaturfolge zu verstehen und braucht einen sensiblen Umgang mit Menschen und deren Entscheidungen, die teilweise unter Druck getroffen wurden und zugleich bis heute Bestand haben. Die Frage, wie wir Menschen ansprechen, die keinen eigenen Bezug zu Kirche und Glauben haben, ist eine Aufgabe in vielen Handlungsfeldern wie dem Religionsunterricht oder der Seelsorge und wird dort eingeübt.
epd: Der Mitgliederschwund der Kirchen wirkt sich auch auf die Arbeit der Pfarrer aus: Gemeinden schließen sich zusammen, die Geistlichen müssen immer mehr Gebiete betreuen. Ist der Beruf für junge Menschen noch attraktiv?
Neumann-Becker: Die Vikarinnen und Vikare, die wir im Predigerseminar erleben, sind mit unglaublicher Freude und Begeisterung in ihrer Ausbildung. Den Schmerz über die kleiner werdende Kirche sehen sie auch, aber sie gehen damit sehr konstruktiv um. Beispielsweise hatte ich kürzlich ein Gespräch mit einer Vikarin, die gerne neue Formen der Seelsorge ausprobiert. Sie hat Jugendliche, die sich vor einer Kirche versammelt haben, abends zu einer Andacht in die Kirche eingeladen. Sie sagte, das sei toll gewesen. Die meisten seien mit hineingekommen und hätten sich angesprochen gefühlt. So unbefangen auf Menschen zuzugehen, finde ich einzigartig. Das sind junge Menschen, die sich für ihre Kirche nicht schämen, sondern die sagen, wir haben einen großen Schatz, den wir gerne teilen möchten.
epd: Vor kurzem hat die sächsische Landeskirche erklärt, aus dem Predigerseminar auszusteigen und künftig seine Pfarrer gemeinsam mit den Bayern auszubilden. Auch die Union Evangelischer Kirchen (UEK) will sich aus der Trägerschaft zurückziehen. Steht die Zukunft des Seminars auf der Kippe?
Neumann-Becker: Im Grunde nicht. Nachdem sich die verbleibenden Landeskirchen und die UEK verständigt haben, die das Predigerseminar derzeit trägt, aber nicht vollständig finanziert, ist der Plan, eine eigene kirchliche Anstalt öffentlichen Rechts zu gründen. In dieser eigenen Rechtsform soll das Predigerseminar weiterexistieren. Diese Rechtsform soll auch offen sein für andere Landeskirchen. Von einer Schließung gehe ich daher nicht aus. Es gibt eine Vereinbarung der drei verbleibenden Landeskirchen, am Standort Wittenberg weiterzuarbeiten.
epd: Interessant ist ja die Begründung für den Wechsel: Laut der sächsischen Landeskirche werden in der Ausbildung in Bayern Rollenkompetenz, theologische Kompetenz und Leitungskompetenz vermittelt. Deshalb habe man sich für den Wechsel entschieden. Ist das denn bei Ihnen nicht der Fall?
Neumann-Becker: Das möchte ich nicht kommentieren. Wir sind mit der sächsischen Landeskirche in einem guten Austausch. Was da benannt wurde, ist ja im Grunde die Matrix der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Die haben wir auch bei uns zugrunde gelegt. Bis Frühjahr 2026 werden wir noch sächsische Vikare in Wittenberg haben. Ich hoffe, dass auf mittlere oder längere Sicht hier wieder eine Gemeinsamkeit möglich ist, weil ich glaube, dass wir in Mittel- und Ostdeutschland Erfahrungsräume teilen, die diese gemeinsame Arbeit fruchtbar machen.