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Josef Schuster: Die schweigende Mehrheit ist zu leise

Sie diskutierten, feierten Gottesdienst und tanzten: Juden aus ganz Deutschland kamen in Berlin zu einem großen Wiedersehen zusammen. Zentralratspräsident Josef Schuster blickt zurück auf vier Tage in schwierigen Zeiten.

Vier Tage lang trafen sich nach Veranstalterangaben rund 1.400 Menschen auf dem fünften Gemeindetag des Zentralrats der Juden in Deutschland – in einer für viele Jüdinnen und Juden schwierigen Zeit. Im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) spricht Zentralratspräsident Josef Schuster über die Wirkung des Gemeindetags in diesen Zeiten, Israel, die Ukraine, anstehende Landtagswahlen und ungewöhnliche Szenen vor einem Berliner Hotel.

KNA: Herr Schuster, welches Signal ging von dem Gemeindetag aus, der in Zeiten großer Verunsicherung der jüdischen Gemeinschaft stattfand?

Schuster: Als Signal nach innen hat der Gemeindetag das erreicht, was wir erreichen wollten: einen größeren Zusammenhalt jüdischer Menschen und Gemeinden in einer Krisensituation. Wir wollten gegen eben diese Verunsicherung vorgehen. Auch das haben wir erreicht, und viele Teilnehmer haben anerkennend hervorgehoben, dass hohe politische Repräsentanten gekommen waren.

KNA: Und das Signal nach außen?

Schuster: Die jüdische Gemeinschaft versteckt sich nicht und ist selbstbewusst in der gegenwärtigen Situation.

KNA: Sie sagten in Ihrer Eröffnungsrede, dass die Teilnehmenden angesichts von gestiegenem Antisemitismus auch Orientierung auf dem Gemeindetag finden sollten.

Schuster: Ich habe Rückmeldungen bekommen, dass sich Menschen wieder stärker an die Gemeinden angebunden fühlen.

KNA: Was waren die wichtigsten Themen während der vier Tage?

Schuster: Die Veranstaltungen zu israelbezogenen Themen waren stark nachgefragt, zum Beispiel zu Antisemitismus und Erinnerungskultur. Auch war ein Podium zu der geplanten Jüdischen Akademie in Frankfurt am Main ausgebucht, das hat mich positiv überrascht. Von Interesse war darüber hinaus die Situation von jungen Leuten in den Gemeinden.

KNA: Welche Rolle spielte es, dass mehrere hochrangige Politiker und Politikerinnen wie Kanzler Olaf Scholz, Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Außenministerin Annalena Baerbock zu Gast waren?

Schuster: Es war den Politikern ein echtes Anliegen zu kommen. Ich glaube, es sollte der jüdischen Gemeinschaft den Rücken stärken und unterstreichen, welche Haltung die deutsche Politik gegenüber Israel und Juden in Deutschland hat.

KNA: Lassen Sie uns auf die jüdischen Gemeinden blicken: Was sind die größten Herausforderungen, vor denen sie stehen?

Schuster: In den Gemeinden sehe ich eine Herausforderung in einer nicht optimalen Demografie. Wo weniger jüngere Menschen sind, ist es schwieriger, sie einzubinden. Das erleben christliche Kirchen genauso. Generell sehe ich, dass es zunehmend schwieriger wird, Menschen zu einem ehrenamtlichen Engagement zu bewegen. Das ist kein jüdisches Phänomen, aber eben auch eine Herausforderung für Gemeinden.

KNA: Woran denken Sie noch?

Schuster: Hinzu kommt eine Zunahme von antisemitischen Taten und Äußerungen. Die gab es auch schon vor dem 7. Oktober. Antisemitismus gibt es immer, und ich habe das Gefühl, dass Menschen mit einem antisemitischen Gedankengut nicht mehr geworden sind, aber lauter und aggressiver. Die schweigende Mehrheit ist zu leise.

KNA: Was kann denn getan werden, damit diese Menschen lauter werden?

Schuster: Ich habe leider kein Allheilmittel. Es gibt eine gewisse Gleichgültigkeit in der Gesellschaft. Bei Demonstrationen kann es am Wetter liegen, dass nur wenige Menschen kommen. Israel und der Gazastreifen sind für einen Großteil der Bevölkerung ziemlich weit weg, 3.500 Kilometer entfernt. Bei der Ukraine ist es anders, sie ist viel näher. Da gibt es beim Durchschnittsbürger eine größere Sorge.

KNA: Sie haben auf dem Gemeindetag gesagt, dass angesichts von Hamas-Terror und Antisemitismus innerjüdische Konflikte und auch Probleme zwischen den religiösen Strömungen im Judentum zurücktreten.

Schuster: Ja, so ist es. Traditionelles und liberales Judentum sind nicht immer einer Meinung. Ich habe das Gefühl, dass Differenzen in den Hintergrund getreten sind.

KNA: Denken Sie, dass das irgendwann wieder anders wird?

Schuster: Ich glaube, nicht mehr so stark. Das ist eine Entwicklung, die wir ohnehin gesehen haben.

KNA: Die aktuelle Situation ist für sehr viele Jüdinnen und Juden schwierig. Wie blicken Sie auf die kommenden Monate?

Schuster: Ich habe die Hoffnung, dass der Krieg im Gazastreifen zu Ende geht, und dann hier in Deutschland auch eine Befriedung eintreten kann, weil die Thematik von den Straßen verschwindet. Ich mache mir mit Blick auf das nächste Jahr auch Gedanken über die anstehenden Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg. Die Prognosen, die ich sehe, stimmen mich skeptisch, und ich habe Sorge, dass die AfD in Regierungsverantwortung kommen könnte. Das wäre eine sehr kritische Situation. Ich höre Stimmen von jüdischen Menschen, in einem solchen Fall ihr Bundesland, ihre Heimat zu verlassen.

KNA: Denken Sie, dass sich aktueller Antisemitismus im Wahlverhalten spiegeln könnte?

Schuster: Ich würde nicht sagen, dass der Antisemitismus der AfD Wähler zutreibt. Auch sind nicht alle AfD-Wähler antisemitisch. Dass aber Menschen, die ein antisemitisches Gedankengut haben, eher dazu neigen, AfD zu wählen, das glaube ich schon.

KNA: Wann und wo wird der nächste Gemeindetag stattfinden?

Schuster: Wir haben ja eigentlich einen dreijährigen Zyklus, den hatten wir wegen Corona auf vier Jahre verändert. Es gibt jetzt unterschiedliche Meinungen, ob es dabei bleibt. Die Entscheidung müssen wir nicht jetzt treffen. Bis auf den ersten Gemeindetag, der in Hamburg stattfand, waren alle anderen in Berlin. Das ist sehr gut. Auch wenn sich dieses Mal anfänglich die Zusammenarbeit mit der hiesigen Polizei als schwierig erwiesen hat.

KNA: Was war da?

Schuster: Nichts war, muss man sagen. Zu Beginn am Donnerstag ist ein einzelner Streifenwagen in der Nacht ein Mal in der Stunde am Hotel, in dem wir untergebracht waren, vorbeigefahren. Nachfragen bei der Polizeipräsidentin persönlich konnten daran nichts ändern. Mitarbeiter meines Personenschutzes standen daraufhin nachts mit zwei Personen bewaffnet vor der Tür des Hotels. Interventionen beim Innenstaatssekretär und beim Regierenden Bürgermeister haben die Situation verändert, so dass das gemacht wurde, was vorher vereinbart worden war. Das alles fand ich schon enttäuschend, vor allem in der heutigen Zeit