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Hunderttausende 17-Jährige verpassen Bundestagswahl

Die vorgezogene Wahl kostet etwa 400.000 junge Erwachsene das Wahlrecht. Wenn es beim regulären Termin im September geblieben wäre, hätten sie die nächste Bundesregierung mitbestimmen dürfen. Ein demografisches Problem?

Bei der Bundestagswahl am 23. Februar können etwa 1,4 Millionen junge Wähler zwischen 18 und 20 Jahren ihre Stimme abgeben – das entspricht 2,4 Prozent der Stimmberechtigten. Demgegenüber stehen 42 Prozent der Wahlberechtigten, die älter als 60 sind. Doch 400.000 jungen Erwachsenen, die beim regulären Termin im September hätten wählen dürfen, bleibt der Gang zur Wahlurne nun verwehrt. Denn sie werden erst nach dem 23. Februar 18 Jahre alt.

Das sorgt für Enttäuschung. “Es ärgert mich wirklich”, sagt der 17-jährige Frederik, Schüler in Freiburg. Sein Eindruck: “Die Politik in Deutschland wird viel zu stark von Senioren bestimmt. Warum haben sie einen so großen Entscheidungsanteil daran, wie es mit unserem Land politisch weitergeht?”

Der Schüler fordert, junge Erwachsene stärker in die politische Willensbildung einzubinden. “Das würde die Agenda verändern, zum Beispiel hin zu mehr Klima- und Umweltschutz. Denn es macht einen großen Unterschied, ob die Parteien vor allem auf die Interessen der Alten schauen oder die Forderungen der jungen Generation ernstnehmen.”

Der Leiter der Landeszentrale für politische Bildung in Baden-Württemberg, Michael Wehner, kann die Kritik zumindest in Teilen nachvollziehen. “Die Demografie ist eindeutig, es gibt deutlich mehr alte als junge Wähler. Und daran orientieren sich die Parteien programmatisch. Zur Wahrheit gehört aber auch eine niedrigere Wahlbeteiligung bei den Jüngeren. Da werden teilweise Mitbestimmungschancen nicht wahrgenommen”, sagt der Politikwissenschaftler.

Die 17-jährige Freya fordert ein grundsätzliches Absenken des Wahlalters auf 16. “Im September hätte ich zum ersten Mal meine Stimme abgeben können, darauf habe ich mich gefreut. Ich habe mich schon genau über die verschiedenen Parteien informiert”, so die Schülerin. “Sehr wichtig ist für mich zum Beispiel der Schutz von Diversität, Vielfalt und die Achtung sexueller Minderheiten.” Sie habe Angst vor einer “Rechtsregierung von CDU mit Billigung der AfD”. “Was wäre, wenn die AfD ernst macht mit der Forderung nach einem EU-Austritt?” Umgekehrt haben besonders die Wahlanalysen bei den jüngsten Landtagswahlen gezeigt, wie stark die AfD gerade bei jungen Wählern und Wählerinnen punkten konnte.

Bei der Landtagswahl in Brandenburg durften 16- und 17-Jährige wählen. Genauso wie bei vielen Kommunalwahlen und vor allem bei der Europawahl im Juni 2024. Doch die Öffnung der Europawahl in Deutschland für 16- und 17-Jährige dürfte in naher Zukunft kaum zu einem Senken des Wahlalters bei den Bundestagswahlen führen. Es ist keine politische Mehrheit für die dazu notwendige Zwei-Drittel-Mehrheit des Bundestags in Sicht.

“Am ehesten hätte ich eine solche Initiative der rot-gelb-grünen Bundesregierung zugetraut. Die sich abzeichnenden politischen Verschiebungen nach Mitte-Rechts machen eine solche Änderung für die nächste Legislaturperiode unwahrscheinlich”, analysiert der Politologe Wehner.

Zuletzt wurde vor mehr als einem halben Jahrhundert das Bundestagswahlalter gesenkt: Bis 1972 durfte man erst mit 21 wählen. Damals war die Alterspyramide der deutschen Bevölkerung völlig anders, das Durchschnittsalter viel niedriger. Die Herausforderung in der alternden deutschen Gesellschaft der Gegenwart und Zukunft ist also, wie sich die Repräsentation der jungen Generation sicherstellen lässt.

Das gegen eine Absenkung angeführte Argument, wonach 16- und 17-Jährigen vielfach das Verständnis für politische Zusammenhänge fehle, lassen Experten nicht gelten. Studien zeigen, dass es keine echten Unterschiede bei Bildung und Wissen zwischen jungen Erwachsenen und anderen Altersgruppen gibt. “Schüler haben in der Regel Gemeinschaftskundeunterricht in der Schule und setzen sich eher mehr mit Demokratie und Wahlen auseinander als andere Altersgruppen”, sagt Wehner.

Der Leipziger Schüler Constantin jedenfalls ist überzeugt, dass viele junge Erwachsene für eine starke Demokratie eintreten und wählen gehen wollen. “Ich habe Glück, weil ich genau rechtzeitig 18 geworden bin. Viele meiner Freunde aus dem Jahrgang 2007 verpassen die Wahl. Dabei ist es gerade jetzt wichtig, politische Verantwortung zu übernehmen, besonders in Zeiten, wo die Demokratie gefährdet ist – und besonders in Ostdeutschland.”