Artikel teilen:

Handeln, bevor es zu spät ist

Mit einer Klage wollen zwei Anwälte die Aufnahme früherer afghanischer Ortskräfte erzwingen

Von Marina Mai

Zwei Berliner Anwälte haben die Bundesregierung wegen Untätigkeit verklagt. Im Namen mehrerer afghanischer Ortskräfte, die sie vertreten und die sich unter größter Gefahr in Afghanistan versteckt halten müssen, haben die Anwältin Susanne Giesler und der Anwalt Matthias Lehnert Klage vor dem Berliner Verwaltungsgericht gegen das Auswärtigen Amt eingereicht. Die Bundesregierung unternehme nichts, die Leute endlich aus Afghanistan ­herauszuholen. Die Klage, die auch der Evangelische Pressedienst in der vergangenen Woche gemeldet hatte, rückt das Thema der afghanischen Ortskräfte wieder in die Öffentlichkeit. Ihre Lage war in letzter Zeit aus dem Blick geraten. 

Lehnert und Giesler vertreten Mitarbeitende eines Projektes, die im Auftrag der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) Schulungen für afghanische Polizist*innen durchführten. Sie ­alphabetisierten und unterrichteten diese in Menschenrechtsfragen. Geschätzt wird, dass mehr als 2000 Menschen an dem Projekt teilgenommen haben. Das Problem: Weil sie keinen Arbeitsvertrag mit der GIZ hatten, sondern nur einen Werkvertrag, sieht die Bundesregierung sie nicht als Ortskräfte und will sie nicht nach Deutschland holen. 

„Die Taliban unterscheiden nicht zwischen verschiedenen Vertragsformen“, sagt Rechtsanwalt Matthias Lehnert gegenüber „die Kirche“. „Die Kläger, die ich vertrete, sind durch ihre Mitarbeit in dem ­Polizeiprojekt gravierend gefährdet, weil sie im Sicherheitssektor tätig waren und durch die Taliban bedroht und verfolgt werden. Deutschland hat eine Schutzpflicht gegenüber Personen, die im deutschen Auftrag in Afghanistan tätig waren.“ Dabei handele es sich, so der Anwalt, nicht um einen humanitären Gnadenakt: „Denn die Verfolgung der ehemaligen Ortskräfte durch die Taliban ist Deutschland zurechenbar.“

Zwei seiner Mandanten hätten Drohbriefe der Taliban erhalten, sie wurden misshandelt und erpresst, ihre Häuser durchsucht, Familienmitglieder ermordet oder entführt mit dem Hinweis, man lasse sie erst frei, wenn die frühere Ortskraft sich stelle, sagt der Anwalt. Die Menschen lebten versteckt, isoliert und hätten sich höchst verzweifelt an Pro Asyl und andere Menschenrechtsorganisationen gewandt. 

Doch Probleme gibt es nicht nur bei jenen, die die Bundesregierung nicht als Ortskräfte anerkennt. Selbst bei den 25 000 anerkannten Ortskräften der Bundeswehr und deren Familienangehörigen, die eine offizielle Aufnahmezusage der Bundesregierung erhalten hatten, hakt es. Mitte Dezember waren nach Angaben der Bundesregierung erst 1300 Ortskräfte und 4700 Familienan­gehörige nach Deutschland gereist. Neuere Zahlen gibt es nicht. 488 von ihnen sind nach Angaben der Berliner ­Landesregierung in Berlin untergekommen. Sie leben in verschiedenen Flüchtlingsheimen, auch in evangelischer Trägerschaft. 

Doch neben ihnen warten viele andere Menschen dringend auf eine Ausreisemöglichkeit: Das sind zum einen besonders gefährdete Menschen wie Frauenrechtlerinnen, Journalist*innen und Blogger*innen, zum anderen Familienangehörige von in Deutschland lebenden anerkannten Asylberechtigten. 

Dagmar Apel, landeskirchliche Pfarrerin für Integration und Migration, sagte, die EKBO hätte im September 2021 dem Auswärtigen Amt eine Namensliste von besonders gefährdeten Personen übergeben, die dringend nach Deutschland geholt werden müssten. „Aus dem Auswärtigen Amt gab es dazu keinerlei Reaktion. Weder vor noch nach dem Antritt der neuen Bundesregierung.“ Die Namen seien von Beratungsstellen der Diakonie und der Kirche mit hier lebenden Afghan*- innen zusammengetragen worden, sagt Apel. Sie stammten von ­Mitgliedern von Menschenrechts­organisationen und ­feministischen Organisationen, Journalist*innen, Angehörigen von Polizei, Militär und Familienmitgliedern von hier lebenden Afghan*innen. 

Anerkannte Asylberechtigte haben per Gesetz Rechtsanspruch auf Familiennachzug ihrer Kernfamilie, das heißt von Ehepartner*- innen und minderjährigen Kindern. Doch weil die deutschen Auslandsvertretungen rund um Afghanistan personell so schlecht ausgestattet sind, kommt es zu jahrelangen Wartezeiten. Da die deutsche Botschaft in Afghanistan seit Jahren ihre Arbeit eingestellt hat, muss man in ein Nachbarland flüchten, um einen Antrag auf Familiennachzug stellen zu können. Die Bundesregierung gab 2021 diese Wartezeit in Pakistan und Indien mit „über einem Jahr“ an. 

Aber auch in den Auslandsvertretungen gibt es zu wenig Personal. Temporär gab es in Katar und Pakistan neun und zehn zusätzliche Personalstellen, doch Günter Burghardt von Pro Asyl reicht das nicht. „Ich fürchte, dass Tausende verzweifelt hoffen und dann bitter enttäuscht werden. In Afghanistan verschärft sich die Lage. Ohne zeitnahe Perspektive auf Ausreise in ein Nachbarland fürchten wir um ihr Leben. Und ohne Zusage zur Weiterreise nach Deutschland sitzen sie in der Falle, denn Pakistan lässt sie nicht einreisen.“ Die Anwälte appellierten an das Auswärtige Amt, die Klagen nicht abzuwarten, weil der Rechtsweg Monate dauere, sondern die Anerkennung schnell vorzunehmen. Nach Monaten könnten die Kläger nicht mehr am Leben sein.