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Gefühlte und echte Wahrheiten

Eine Studie des Paritätischen Gesamtverbandes sieht die Armut in Deutschland auf einem neuen Höchststand. Aber wer ist wirklich arm? Darüber gehen die Meinungen auseinander

Steffen Schellhorn

BERLIN – Der ehemalige VW-Chef Martin Winterkorn kassiert laut Medienberichten rund 3100 Euro Betriebsrente – pro Tag. Eine Kinderkrankenschwester kommt auf einen Bruttoverdienst von knapp 2500 Euro – pro Monat. Und es gibt viele Menschen in Deutschland, die mit noch weniger Geld auskommen müssen. Wie viele es genau sind – und was das über die gesellschaftlichen Zustände aussagt, darüber lässt sich gerade im Wahljahr trefflich streiten. Der Kanzlerkandidat der SPD Martin Schulz  jedenfalls formulierte es unlängst auf einer Konferenz in Bielefeld so: „Die Ungleichheit nimmt zu – gefühlt und tatsächlich.“
Der Armutsbericht, den der Paritätische Wohlfahrtsverband zusammen mit anderen Verbänden (siehe Kasten unten) jetzt in Berlin vorgestellt hat, scheint die These von Martin Schulz zu untermauern. 2015 lebten danach 15,7 Prozent der Bevölkerung unterhalb der so genannten Einkommensarmutsgrenze. Das sind in absoluten Zahlen rund 12,9 Millionen Menschen. Ein neuer Höchstwert, wie der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbands, Ulrich Schneider, bei der Vorstellung des Berichts betonte. 2014 betrug die Quote 15,4 Prozent.

„Problemregionen“ Berlin und Ruhrgebiet

Schneider bezeichnete Berlin und das Ruhrgebiet als „armutspolitische Problemregionen“. Im Zehn-Jahres-Vergleich sei die Quote in allen ostdeutschen Bundesländern mit Ausnahme Berlins gesunken, heißt es in dem Bericht. Gleichzeitig stieg die Quote in den westdeutschen Ländern. Ausnahmen sind Hamburg und Bayern.
Zudem kommen die Herausgeber zu dem Schluss, dass die Armutsquote bei allen bekannten Risikogruppen im Vergleich zum Vorjahr gestiegen ist. Bei Erwerbslosen liegt sie bei 59 Prozent, bei Alleinerziehenden bei 44 Prozent, bei kinderreichen Familien bei 25 Prozent. Schneider wies in diesem Zusammenhang auf die Lage der Rentner hin. Zwischen 2005 und 2015 stieg ihre Armutsquote den Angaben zufolge von 10,7 Prozent auf 15,9 Prozent.
Eine ähnliche Zahl wie der Paritätische, nämlich 12,7 Millionen Menschen, hatten Ende Januar bereits die Experten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung in Berlin (DIW) in Umlauf gebracht.
Der Paritätische beruft sich auf den zuletzt 2015 durchgeführten Mikrozensus des Statistischen Bundesamts, das DIW auf das Sozio-ökonomische Panel (SOEP) von 2014. Als „armutsgefährdet“ gelten in beiden Untersuchungen Haushalte, die über weniger als 60 Prozent des „mittleren Einkom-mens“ verfügen. 2015 lag diese Armutsschwelle etwa bei 942 Euro für Singles und bei 1978 Euro für Paare mit zwei Kindern unter 14 Jahren.
Eine immer wiederkehrende Streitfrage lautet, ob nun all diejenigen, deren Einkommen unterhalb dieser Grenze liegt, tatsächlich als „arm“ zu bezeichnen sind. Ja, sagen die Verbände und die Opposition. Sie fordern einen sozial- und steuerpolitischen Kurswechsel.

Armut trotz guter Wirtschaftslage

„Trotz guter Wirtschaftslage kommt der Wohlstand bei großen Teilen der Bevölkerung nicht an“, sagte etwa der Sprecher für Sozialpolitik der Grünen-Bundestagsfraktion, Wolfgang Strengmann-Kuhn. Besonders erschreckend seien die hohe Kinderarmut, die steigende Altersarmut und die trotz Mindestlohn zunehmende Armut trotz Erwerbstätigkeit. Strengmann-Kuhn plädierte daher für eine Kindergrundsicherung, eine Garantierente und ein Garantieeinkommen für Erwerbstätige.
Die Linke fordert eine radikale Umverteilung von „oben nach unten“. „Es braucht ordentlich bezahlte Erwerbsarbeit, eine Aufwertung der frauentypischen Berufe, den Ausbau und die Demokratisierung von sozialer Infrastruktur und Dienstleistungen, eine Kindergrundsicherung  für alle Kinder und Jugendlichen sowie eine solidarische Mindestrente“, erklärte die sozialpolitische Sprecherin der Linksfraktion, Katja Kipping.
Dass nicht alle von dem Bericht als „arm“ bezeichneten Menschen tatsächlich „arm“ seien,  meint hingegen der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städte- und Gemeindebundes, Gerd Landsberg. Er warnte vor „undifferenzierten Bewertungen“. Die Zahlen sagten nichts aus über die tatsächliche Situation der Menschen und bedeuteten nicht, dass diese gesellschaftlich abgehängt seien. So gebe es 2,8 Millionen Studenten in Deutschland, die trotz eines geringeren Einkommens zumeist keineswegs als arm zu bezeichnen seien. Hunderttausende von ihnen würden nach der Einschätzung des Paritätischen als arm gelten, sagte Landsberg. Aber gerade Studierende seien gesellschaftspolitisch besonders aktiv und sähen sich zu Recht als die zukünftige Leistungselite.Der Verband lehnt Forderungen nach weiteren Sozialleistungen ab.
Widerstand regt sich auch in der Wissenschaft. Der Dortmunder Professor für Wirtschafts- und Sozialstatistik, Walter Krämer, zum Beispiel wirft den Verbänden Panikmache vor. Bei eingehender Betrachtung der Zahlen „käme nämlich heraus, dass Armut seit Jahren sinkt“, so Krämer gegenüber dem RedaktionsNetzwerk Deutschland. Schon Ende des Jahres warnte der Generalsekretär des Deutschen Caritasverbandes, Georg Cremer, vor immer neuen Superlativen in der Armutsdebatte und mahnte zu einer sachlicheren Diskussion.
Dazu könnten vielleicht folgende Zahlen beitragen. 2014 waren Schätzungen zufolge 335 000 Men-schen in Deutschland ohne eigene Wohnung, wie die stellvertretende Geschäftsführerin der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe, Werena Rosenke, bei der Vorstellung des Armutsberichtes ausführte. Diese Zahl könne sich bis 2018 auf über eine halbe Million erhöhen.

Ärmere Menschen werden eher krank

An demselben Tag, an dem der Armutsbericht des Paritätischen erschienen ist, veröffentlichte die Bundesregierung ihre Antwort auf eine Anfrage der Linken im Bundestag. Demnach sperren Energieversorger pro Jahr wegen Zahlungsrückständen durchschnittlich 330 000 Haushalten den Strom ab. Und das Robert-Koch-Institut verwies darauf, dass ärmere Menschen ein bis zu dreimal höheres Risiko für schwere Krankheiten hätten wie finanziell und sozial gut gestellte Bürgerinnen und Bürger. Dies gelte etwa für Diabetes, Herzinfarkt und bei vielen Krebserkrankungen, beispielsweise der Lunge und der Leber.
Schwierig wird es mitunter, aus den Statistiken einen Trend nach oben oder unten abzulesen. Was bleibt, sind die Diskussionen darüber. Und viele Menschen, die in einem reichen Land nicht wissen, wie sie über die Runden kommen sollen.
Voraussichtlich in den kommenden Wochen will die Bundesregierung ihren 5. „Armuts- und Reichtumsbericht“ veröffentlichen. Dann wird die Debatte über tatsächliche und vermeintliche Missstände wieder neu an Fahrt gewinnen.  KNA/epd