Von Dagmar Apel
Am Anfang der biblischen Erzählungen befahl der Heilige Abraham, seinen einzigen Sohn Isaak zu nehmen und in das Land Moria zu ziehen. In Moria sollte die Opferung Isaaks (1. Mose 22,2) geschehen. Das Wort Moria (Morijha) bedeutet im Hebräischen: „Das Land, in dem man sehen wird“.
Moria bedeutet für uns heute Leid, Unmenschlichkeit, Erbarmungslosigkeit. Denn Moria heißt das Lager auf der Insel Lesbos, in dem bis zu 20 000 Menschen zusammengepfercht leben müssen. Die etymologische Ähnlichkeit zwischen dem biblischen und dem griechischen Moria ist nicht zu übersehen.
Der Hintergrund für den humanitären Notstand ist, dass alle Geflüchteten, die nach dem 20. März 2016 auf den griechischen Inseln ankommen, gemäß einer europäischen Übereinkunft mit der Türkei nicht mehr aufs griechische Festland gebracht werden dürfen, sonst nimmt die Türkei sie nicht zurück. Griechenland ist mit dem Problem hoffnungslos überfordert. Das einmal für 3 000 Menschen angelegte Lager ist seit Jahren völlig überfüllt. Zu wenige sanitäre Anlagen, dicht gedrängt, in Zelten, leben zu viele Menschen auf engstem Raum zusammen. Das ist in Pandemiezeiten katastrophal, denn die Menschen können keinen Abstand und die Hygieneregeln nicht einhalten. Europa opfert die Geflüchteten in Moria für seine scheiternde Asylpolitik. Alle schauen zu.
Deutsche Städte und Landkreise haben sich bereit erklärt, Flüchtlinge aus Moria in Griechenland und vor dem Ertrinken Gerettete aufzunehmen. Berlin, Nordrhein-Westfalen, Thüringen voran und viele andere Bundesländer ringen mit dem Bundesinnenminister um die Anzahl, die in Deutschland aufgenommen werden. 928 Menschen will Horst Seehofer insgesamt für Deutschland aufnehmen, die Bundesländer sprechen von 3 000 und mehr. Aufgenommen werden sollen vor allem kranke Kinder und Jugendliche mit ihren Familien und unbegleitete Minderjährige. Die Bundesländer dürfen nicht ohne das Einvernehmen mit dem Bundesinnenminister eigenständig Geflüchtete ins Land holen. Einvernehmen gibt es aber nicht, denn Seehofer hat Berlin und Thüringen verboten, mehr Geflüchtete aufzunehmen. Berlin kann ohne Probleme 300 Menschen, so Innensenator Andreas Geisel, beherbergen. Vom Bund zugewiesen sind 76. Eine Familie mit sieben Personen ist bereits eingetroffen und erholt sich in Quarantäne. Acht unbegleitete Flüchtlinge sind ebenfalls nach Berlin gekommen.
Seehofers bekannte harte Hand weist erbarmungslos ab. Da hilft kein Intervenieren der evangelischen Kirche, kein Statement vom Ratsvorsitzenden Bedford-Strohm, keine Reportage mit Dunja Hayali, kein Drängen von Basisgruppen, keine Hintergrundgespräche, keine Apelle mit Ethik und Moral. Mühsames Tauziehen seit Monaten.
Berlins Innensenator Geisel unterstützt die Idee einer „Bund-Länder-Konferenz zur Aufnahme von Geflüchteten aus den Lagern“. Eine Klage gegen Seehofer könnte Jahre dauern. Das wäre keine Hilfe für die Geflüchteten, die sie jetzt benötigen. Moria ist zum Land geworden, in dem man europäische Hartherzigkeit, Menschenverachtung, Rassismus sehen kann. Denn es gibt eine Zwei-Klassen-Ideologie, in der nur die Person zählt, die am „richtigen“ Ort geboren ist. Humanität und Menschenrechte, die Grundsätze, mit denen Europa einmal nach dem Zweiten Weltkrieg neu begonnen hat, gelten nur für die, die in Europa sind. Dazu kommt, dass im Mittelmeer weiterhin Menschen auf der Flucht vor Krieg und Hunger ertrinken. Eine staatliche Seenotrettung gibt es nicht. Private Hilfsorganisationen werden kriminalisiert.