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Berliner Notfallseelsorge feiert 30-jähriges Bestehen

Für Menschen in Ausnahmesituationen da sein: Im Gastbeitrag erklärt Justus Münster, früherer Leiter der Notfallseelsorge, warum die Arbeit einen wichtigen Kernauftrag der Kirche erfüllt.

Mit offenen Ohren und tröstenden Worten zur Stelle: Die Evangelische Notfallseelsorge
Mit offenen Ohren und tröstenden Worten zur Stelle: Die Evangelische NotfallseelsorgeImago / Eibner

Es ist unmittelbar einleuchtend, dass Menschen in Ausnahmesituationen vor allem seelsorglich nicht allein gelassen werden sollten. In solchen Momenten wünscht sich wohl jeder jemanden an seiner ­Seite – sichtbar, empathisch und mit der Zusicherung: Ich lasse dich jetzt nicht allein. Besonders dann, wenn man selbst nicht mehr weiß, ob man Hunger oder Durst hat, ­geschweige denn, wo rechts oder links ist.

Dieser Gedanke stand im Mittelpunkt der Gründung der Notfallseelsorge in Berlin. Sowohl die ­Berliner Feuerwehr als auch die ­Polizei Berlin wandten sich an die evangelischen und katholischen Kirchenleitungen der Stadt, um ­Unterstützung für ihre Einsatz­kräfte vor Ort zu erhalten. Diese Einsatzkräfte stehen in Notfällen oft Hinterbliebenen, Betroffenen, Augenzeug:innen, Ersthelfenden oder Vermissenden gegenüber – Menschen, die in solchen Momenten dringend seelsorgerlichen ­Beistand benötigen. Und die ­Kirchen hatten die Seelsorge. Und so lag es nahe, auch in Katastrophenmomenten zu helfen – mit dem festen Willen, die Betroffenen nicht allein zu lassen.

Notfallseelsorge in Berlin: Es begann mit einer Pressekonferenz

Am 17. Januar 1995 wurde die Notfallseelsorge in Berlin gegründet, in einer unscheinbaren Pressekonferenz aus der Taufe gehoben. 30 Jahre später lässt sich eine durchweg positive Bilanz ziehen. Über 5000 Einsätze hat die Notfallseelsorge in der Stadt seitdem ­begleitet. Während es anfangs nur wenige pro Monat waren, sind es inzwischen knapp 400 Einsätze pro Jahr.

Die Leitstellen und Lagedienste von Feuerwehr und Polizei alarmieren die Notfallseelsorger:innen ­immer dann, wenn Menschen in akuten Krisensituationen Beratung und Unterstützung benötigen. Das Einsatzspektrum ist breit gefächert: Es umfasst auch Hilfe nach häuslichen traumatischen Ereignissen wie ­erfolglosen Reanimationen, plötz­lichem Kindstod oder Suiziden. Ebenso begleiten die Notfallseelsorger:innen die Polizei, wenn Todesnachrichten überbracht werden müssen. Insgesamt engagieren sich 135 Mitarbeitende aus den­ ­beiden Kirchen und fünf Hilfsorganisationen in diesem bedeutenden Dienst der psychosozialen Notfallversorgung. Ihr Ziel: durch professionelle Begleitung direkt nach einem schlimmen Ereignis seelische Folgeschäden zu mindern oder idealerweise zu verhindern.

Der Barmherzige Samariter dient den Seelsorgenden als Vorbild

In ihrem Handeln orientieren sich die Notfallseelsorger:innen am Vorbild des Barmherzigen Samariters aus dem Evangelium nach ­Lukas. Ohne Ansehen der Person leisten sie genau die Hilfe, die in diesem Moment am dringendsten gebraucht wird. Der Samariter lässt sich in seinem Alltag unterbrechen, er sieht den hilfsbedürftigen ­Menschen, erkennt dessen Notlage und handelt sofort: Er leistet erste Hilfe, schätzt die Situation richtig ein und verabschiedet sich schließlich, als er sicher ist, dass der Verletzte in guten Händen ist.

Das Vorbild des Barmherzigen Samariters verdeutlicht: Ohne Ansehen der Person, die Lage richtig einzuschätzen und so zu helfen, dass der oder die Betroffene uns wieder auf Augenhöhe begegnen kann – das ist der Kern der Nächstenliebe. So erklärt Jesus dem Schriftgelehrten, wer der oder die Nächste ist und damit das Grundprinzip der Notfallseelsorge.

Notfallseelsorge: Begleitung in Ausnahmezuständen

Manchmal scheint es so einfach – so auch bei der Gründung und ­Etablierung der Notfallseelsorge. Doch wie bei neuen Ideen üblich, stieß auch diese nicht sofort auf ­offene Ohren. Es gab Widerstände innerhalb der Kirchen gegen die ­organisierte, planbare und verlässliche Form der Seelsorge direkt am Notfallort. Nicht alle erkannten, dass diese Form ein entscheidender Weg ist, Kirche im öffentlichen Raum sichtbar und wirksam präsent zu machen. In der Presse war gar die Rede vom „Todesengel im Talar“ oder davon, dass „der Pfarrer immer dann kommt, wenn es brennt“. Nein, Seelsorge in Not­situationen, Begleitung in Ausnahmezuständen, Auffangen in der persönlichen Katastrophen – das ist das, was die Seelsorge in und nach Notfällen tut.

Was eigentlich schon immer ­zusammengehörte, fühlte sich ­anfangs für viele ungewohnt an – sowohl innerhalb der Seelsorge als auch in der öffentlichen Wahr­nehmung. Was hatten die Kirchen mit Katastrophen- oder Groß­schadenslagen zu tun? Heute ­wissen wir: erheblich mehr, als ­damals gedacht oder vorstellbar war. Die Etablierung der Notfallseelsorge vor 30 Jahren führte zurück zu den Wurzeln der Kirche und ihrer Kernkompetenz: Deine Kirche lässt dich nicht im Stich, wenn du sie am nötigsten brauchst. Mit mehr als Worten möchte sie Erste Hilfe für die Seele leisten – ­gerade dann, wenn das Blaulicht der Feuerwehr die Unfallstelle ­erhellt, wenn die Polizei eine ­Todesnachricht überbringen muss und wenn die Welt für die Betroffenen aus den Angeln gehoben scheint.

Dann kommt die Notfallseel­sorge hinzu, sie hält aus, steht bei und öffnet zusammen mit den ­Betroffenen einen Blick auf die nächsten Minuten und Stunden. Sie bietet einen Sonnenstrahl des ­aufscheinenden Morgenglanzes der Ewigkeit – mitten in der Finsternis.

Justus Münster ist seit 2025 Landesbeauftragter für Psychosoziale Notfallversorgung im Land Berlin. Zuvor war er fast 20 Jahre lang Leiter der Evangelischen Notfallseelsorge in Berlin.