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Alfred Grosser – ein Streiter für deutsch-französische Verständigung ist tot

Kaum jemand habe sich so leidenschaftlich für das gegenseitige Verständnis zwischen Frankreich und Deutschland eingesetzt wie der in Frankfurt geborene Franzose, erklärte Bundespräsident Steinmeier.

Alfred Grosser, hier im Oktober 2018, ist gestorben
Alfred Grosser, hier im Oktober 2018, ist gestorbenImago / epd-bild

Der Politikwissenschaftler und Publizist Alfred Grosser, einer der profiliertesten Streiter für die deutsch-französische Verständigung, ist tot. Wie sein Sohn Pierre Grosser am Donnerstag der Zeitung Le Monde sagte, starb er am Mittwoch in Paris, wenige Tage nach seinem 99. Geburtstag. Der 1925 in Frankfurt am Main geborene Politologe erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sagte: „Wohl kaum jemand hat in den vergangenen Jahrzehnten so kenntnisreich, so leidenschaftlich und so überzeugend für das gegenseitige Verständnis zwischen Frankreich und Deutschland gewirkt wie Alfred Grosser.“ Sein Name bleibe „für uns Deutsche für immer verbunden mit dem großen Werk der deutsch-französischen Aussöhnung – nach den Epochen der Feindschaft und der großen Kriege“, schrieb er an Grossers Witwe Anne-Marie Jourcin.

Alfred Grosser – ein außergewöhnlicher Vermittler

Der deutsche Botschafter in Paris, Stephan Steinlein, erklärte auf X (vormals Twitter), die beiden Länder hätten einen außergewöhnlichen Vermittler verloren, der sich unermüdlich für die Freundschaft eingesetzt habe. Der französische Botschafter in Berlin, François Delattre, nannte Grosser auf X „ein humanistisch geprägtes Bindeglied zwischen unseren beiden Ländern und eine große Inspirationsquelle“. Die Pariser Hochschule IEP (Sciences Po), die einen Lehrstuhl nach ihrem langjährigen Professor benannt hat, würdigte sein großes Engagement für die europäischen Werte. Er habe mehrere Generationen von Studierenden geprägt.

Grosser wurde 1925 in Frankfurt am Main in eine bürgerlich-jüdische Familie geboren, die 1933 nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten nach Frankreich emigrierte. 1937 nahm er die französische Staatsangehörigkeit an. Von 1955 bis 1992 lehrte er als Professor an der Elitehochschule Sciences Po. Grosser schrieb mehr als 30 Bücher, darunter „Deutschland in Europa“, „Von Auschwitz nach Jerusalem“ oder „Wie anders ist Frankreich?“. Außerdem publizierte er regelmäßig in zahlreichen Zeitungen und Zeitschriften.

Neben dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels (1975) wurde er unter anderem mit der Goethe-Medaille, dem Henri-Nannen-Preis, dem Verdienstorden der Bundesrepublik sowie dem Großkreuz der französischen Ehrenlegion ausgezeichnet. Der Pro-Europäer trat als Redner auf evangelischen Kirchentagen und im Deutschen Bundestag auf, zuletzt 2014 bei der Gedenkfeier zum 100. Jahrestag des Beginns des Ersten Weltkriegs. Diese beeindruckende Rede sei ihm in bleibender Erinnerung, erklärte Bundespräsident Steinmeier.

Kritik an Äußerung zu Israel

Der aus einer jüdischen Familie stammende Atheist kritisierte auch immer wieder die israelische Politik. „Ich wurde als Jude von Deutschen verachtet – und glaubte nach Auschwitz doch an unsere gemeinsame Zukunft“, schrieb Grosser 2007 in der Zeitschrift „Internationale Politik“: „Ich verstehe nicht, dass Juden heute andere verachten und sich das Recht nehmen, im Namen der Selbstverteidigung unbarmherzig Politik zu betreiben.“ Im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) im Jahr 2020 sagte er: „Israel fordert heraus, dass es einen Antisemitismus gibt, indem man Antisemitismus nennt, was eine berechtigte Kritik an Israel oder der israelischen Politik ist.“
Diese Haltung trug ihm heftige Kritik ein, auch vom Zentralrat der Juden. Am 9. November 2010 drohte anlässlich seiner Rede in der Frankfurter Paulskirche zum Gedenken an die Pogromnacht 1938 ein Eklat, der dann aber doch ausblieb.