Predigttext
19 Alle meine Vertrauten verabscheuen mich, und die ich liebte, haben sich gegen mich gewandt. 20 Ich bin nur noch Haut und Knochen, und die Haare fallen mir aus. 21 Habt Erbarmen, Erbarmen mit mir, meine Freunde, denn Gottes Hand hat mich geschlagen. 22 Warum wollt ihr mich wie Gott verfolgen und werdet nicht satt, mich zu zerfleischen? 23 Würden meine Worte doch aufgeschrieben, in eine Tafel geritzt, 24 mit eisernem Griffel und mit Blei für immer in den Fels gemeißelt! 25 Ich aber weiß: Mein Anwalt lebt, und zuletzt wird er sich über dem Staub erheben. 26 Und nachdem meine Haut so zerschunden wurde, werde ich Gott schauen ohne mein Fleisch. 27 Ich werde ihn schauen, und meine Augen werden ihn sehen und niemand sonst. In meinem Innern verzehren sich meine Nieren.
Zürcher Bibel
Ich habe viele Menschen wie Hiob getroffen. Es ging ihnen gut: Sie hatten eine große Familie mit Eltern und vielen Geschwistern am gleichen Ort, Arbeit als Lehrerin, in der Industrie. Oder sie besaßen einen eigenen kleinen Handwerksbetrieb. Die eigene Wohnung hatten sie kaufen können, ein Auto, einen Garten… Es ging ihnen eigentlich gut – in Syrien, im Iran, sogar in Afghanistan.
Und dann kam der Krieg, der IS, es kamen die Taliban, es kam die Geheimpolizei, die die Mitglieder einer Hauskirche verhaftete oder kritische Journalisten verfolgte. Nur das nackte Leben konnten sie retten.
Wenn Kummer krank macht
Nach manchmal monatelanger Flucht finden sich diese Menschen in einer Massenunterkunft in Deutschland wieder, viele Monate lang zu viert auf dem Zimmer. Oder sie warten allein in einer Kleinstadt auf dem Land jahrelang auf den Ausgang ihres Asylverfahrens, auf den Sprachkurs…
„Ich bin nur noch Haut und Knochen“, klagt der Hiob der Bibel – und die Haare fallen ihm vor Gram aus. Ja, auch die Gesundheit leidet in solchen Situationen.
In Zeiten von Corona kann man aber auch an Menschen denken, deren Arbeitsplatz jetzt gefährdet ist, oder deren selbstständige Existenz etwa als Gastwirt vor dem Aus steht. Menschen erleiden große Verluste hier als Folge der Pandemie. Und natürlich gibt es andere persönliche Schicksalsschläge, die einen wie Hiob empfinden lassen.
Freunde sind wichtig in solchen Situationen. Aber manche von ihnen scheinen alles besser zu wissen: Du hast selber einen Fehler gemacht. Du hast dich auf die falschen Leute eingelassen. Du hättest woanders hin gehen sollen. Du hättest dich nicht selbstständig machen sollen.
Auch Hiob hatte solche Freunde. Sie redeten auf ihn ein von Gottes Strafe, die ihn ereilt hätte. Oder dass Gott ihn etwas lehren wolle durch das Leid. Aber solche Antworten sind doch keine Hilfe. Denn genau das fragt man sich doch schon selber. Was habe ich falsch gemacht, dass Gott mich so quält?
Verzweiflung und Anklage
Der biblische Hiob wagt es in seiner Verzweiflung, mit seinen Freunden und mit Gott ins Gericht zu gehen: Nein, es ist nicht einfach meine Schuld! „Warum wollt ihr mich wie Gott verfolgen und werdet nicht satt, mich zu zerfleischen?“ Er gibt sich nicht auf, sondern kämpft und klagt Gott an.
Und auch wenn Hiob letztlich keine Antwort auf das große „Warum“ erhält: Am Ende des Hiobbuches wird Gott ihm Recht geben gegen seine Freunde: Diese liegen falsch mit ihrer Idee von der Strafe Gottes. Hiob hat recht, dass er geklagt hat und mit Gott gerungen hat. Und ganz am Schluss des Buches wird Gott sein Leid doch noch in Segen umwandeln.
Aber schon im heutigen Text, noch mitten im Leid, erblickt Hiob eine Hoffnung: Luther formuliert: „Ich weiß, dass mein Erlöser lebt“. Gemeint ist hier einer, der im Gerichtsverfahren hilft.
Die Zürcher Bibel übersetzt darum: „Ich aber weiß: Mein Anwalt lebt.“
Anwalt! Damit können Geflüchtete in Deutschland viel anfangen. In all dem Leid: Eine gute Anwältin für das Asylverfahren vor Gericht zu haben, das ist entscheidend. Oder Unterstützer und Beraterinnen zu haben, die vorbehaltlos auf der eigenen Seite stehen, wenn das Warten drückt, die Bürokratie hindert, die Erinnerung an das Verlorene alles zu verdunkeln droht.