Mai 1945: Deutschland hat den Krieg verloren – ein Volk hat sich verloren. Schätzungsweise zehn Millionen Menschen wissen nicht, ob und wenn ja wo ihre Angehörigen leben. Auch 80 Jahre später gibt es noch offene Fragen.
Am Anfang eine Zahl: 7.000. So viele Anfragen zu Vermissten aus dem Zweiten Weltkrieg erreichten den Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes im vergangenen Jahr. “Es gibt ein großes Interesse bei der Enkelgeneration, mehr über die Schicksale der Großeltern zu erfahren”, sagte DRK-Präsidentin Gerda Hasselfeldt unlängst der “Neuen Osnabrücker Zeitung”. Sie plädiere dafür, dass das Bundesinnenministerium die Suche über 2028 hinaus finanziere, “bis 100 Jahre nach Kriegsende, also bis 2045”.
Dazu noch eine Zahl: Aktuell, 80 Jahre nach Ende der Kämpfe in Europa, ist der Verbleib von gut einer Millionen deutscher Soldaten immer noch unbekannt. Und das, obwohl es noch vor der deutschen Kapitulation am 7./8. Mai 1945 erste Bestrebungen gab, die Suche nach Vermissten aufzunehmen. Mit einer Stelle unter dem Namen “Deutsches Rotes Kreuz, Flüchtlingshilfswerk, Ermittlungsdienst, Zentrale-Suchkartei”.
Zwei Namen fallen in diesem Zusammenhang immer wieder: die der Wehrmachtsoffiziere Helmut Schelsky – der später als Soziologe Karriere machen sollte – und Kurt Wagner, ein Mathematiker. Schelskys Versprechen: “Wir sorgen dafür, wenn es den, den ihr sucht, überhaupt noch irgendwo gibt, werden wir euch das bald sagen.” Ein genaues Datum lässt sich nicht mit Sicherheit ermitteln, wie ein DRK-Sprecher auf Anfrage sagt. “Unterlagen legen nahe, dass das erste Vorgespräch in Flensburg am 23. April stattfand und die Dienststelle selbst dann am 4. Mai eingerichtet wurde.”
Warum Flensburg? Dort saß die letzte Rumpfregierung des Deutschen Reichs, nachdem sich Adolf Hitler am 30. April in Berlin getötet hatte. Und warum das Rote Kreuz? Die Suche nach Vermissten sei seit jeher eine humanitäre Kernaufgabe der Rotkreuz-Bewegung, sagt der DRK-Sprecher. Erstmals habe das Deutsche Rote Kreuz diese Aufgabe im Deutsch-Französischen-Krieg (1870/71) übernommen.
Bereits im September 1945 wird die Flensburger Stelle zum damaligen DRK-Landesnachforschungsdienst nach Hamburg verlegt; die Metropole gehört nach Kriegsende zum britisch kontrollierten Sektor. Nahezu zeitgleich beginnt die Suchdienstarbeit in München für die amerikanische Zone. Die Sowjets ziehen in Berlin im August 1946 nach.
“Wolfgang, fünf Jahre alt, gefunden im Wald bei Neubrandenburg, Mecklenburg mit seinem vierjährigen Bruder Günther. Man fand ihn mit geöffneten Pulsadern.” Es sind solche Aufrufe, die in diesen Jahren die Herzen der Menschen rühren. Doch es sind nicht nur Kinder, die ihre Eltern verloren haben. Krieg, Gefangenschaft und Flucht haben zeitgenössischen Schätzungen zufolge zehn Millionen Frauen, Männer, Mädchen und Jungen in Deutschland voneinander getrennt.
Im April 1950 führt der DRK-Suchdienst am Standort München die beiden Karteien aus München und Hamburg zusammen. So entsteht die Zentrale Namenskartei mit heute mehr als 50 Millionen Karteikarten und Angaben zu rund 20 Millionen Personen. Noch eine Zahl: Allein von Mai 1945 bis Mai 1950 werden 14 Millionen Suchanfragen gestellt; in 8,8 Millionen Fällen kann der Suchdienst sogenannte schicksalsklärende Auskünfte über nächste Angehörige erteilen.
Seit 1992 hat der DRK-Suchdienst aus ehemals sowjetischen Archiven rund zwei Millionen Kriegsgefangenen- und Interniertenakten sowie rund fünf Millionen Karteikarten der Kriegsgefangenenkartei aus dem Russischen Staatlichen Militärarchiv erhalten. “Deren Auswertung kann auch heute noch zu neuen Erkenntnissen für suchende Angehörige führen”, betont der DRK-Sprecher. “Es lohnt sich eventuell also, eine erneute Anfrage zu stellen.”