Die kunstgewordene Irritation wird jeden Morgen aufgefrischt, wenn ich das Gemeindehaus in der Bernauer Straße 111 betrete. Das in grellen, feuerähnlichen Rot-Farben dargestellte Sakralgebäude explodiert auf dem 1985 von Nil Ausländer geschaffenen Gemälde. Es trägt den Titel „Sieben Kreuze“ und interpretiert jene Sekunden, in welchen am 28. Januar 1985 der Turm der historischen Versöhnungskirche im sowjetischen Grenzsektor insgesamt 23,4 Kilogramm Sprengstoff zum Opfer gefallen war. Bereits sechs Tage zuvor, am 22. Januar, war das Kirchenschiff gesprengt worden.
Fünfzehn Jahre später ist aus dem nach der Sprengung eingeebneten und 1999 wieder ausgegrabenen Schutt, vermischt mit Stampflehm, die Kapelle der Versöhnung entstanden. In ihrer Baugestalt und auf ihrem Außengelände finden sich Spuren der von Nil Ausländer gemalten Sprengstücke wieder: erhalten gebliebene Sockel-Kapitelle der alten Kirche, Fundament-Gründungen, Holzsplitter, Keramik- und Glasscherben. Wer die moderne Kapelle aufsucht, nähert sich ihr über ein Ruinen-Ensemble von Bruchstücken und Grenz-Relikten.
„Sieben Kreuze“: Gemälde zeigt die Zerstörung der Versöhnungskirche
Emotionaler Höhepunkt der Erinnerungsszene ist das 1894 gefertigte gusseiserne Turmkreuz: Von der Sprengung gezeichnet, durch den Aufprall aus 75 Metern Höhe verbogen, in seinem Rost im Roggenfeld liegend. Auch auf dem Gemälde ist das Turmkreuz emotionaler Höhepunkt. Neben den im Mauerstreifen kreuzartig aufgestellten sieben Panzersperren, welche dem Bild den Titel gaben, ist das Sakralzeichen auf dem Turm das achte Kreuz. Vor dem Hintergrund der gewaltsamen Zerstörung wird das Turmkreuz in die Luft geschleudert.
„Wie ein Mensch ist der Turm zusammengesackt und nach hinten gekippt“, haben mir Menschen aus der Versöhnungsgemeinde berichtet, die von ihrem Küchenfenster aus zugesehen haben. Weist das in die Luft fliegende Kreuz, frage ich mich vor dem Gemälde, wie auf eine „Seele“ der dargestellten entweihten Kirche, wenn sie die Sterbende verlässt?
Studenten fotografierten die Sprengung der Versöhnungskirche vom Dach aus
Der undurchdringliche Starknebel ätzender Staubpartikel, von dem mir Augenzeugen der Sprengung erzählen, blieb stundenlang in der Luft. Von meinem Studentenzimmer im fünften Stock des 500 Meter von der Bernauer Straße entfernten Theologischen Sprachenkonvikts in der Borsigstraße war der Nebel nicht wahrzunehmen. Seit meinem Studienbeginn 1983 habe ich durchs Fenster, über die Gebäudelücken, Kriegsbrachen und über den Elisabeth-Friedhof hin, den Turm der Versöhnungskirche gesehen. Im Winter 1985 war er plötzlich fort. Kommilitonen haben in Sequenzen sein Verschwinden fotografiert, vom Dach des Sprachenkonviktes aus.
Wir spürten Traurigkeit, als die Fotos der einstürzenden Kirche vor dem Hörsaal am schwarzen Brett hingen. Eine Mischung aus Ohnmacht und Demütigung, die wir gut kannten, stieg in uns auf. Zum Glück waren wir jung und voller Ideale, mit kreativen Ideen für Widerstand und Wandel in der ostdeutschen Gesellschaft. Deren allerletzte Jahre waren angebrochen, nur ahnten wir es noch nicht. Zwölf Wochen nach der Sprengung der Versöhnungskirche wurde Michael Gorbatschow in Moskau Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion. Seine Politik der „Glasnost“, der Transparenz, war für uns ein Signal: Der Beginn vom Tauwetter im Kalten Krieg.
Seit mich die Versöhnungsgemeinde im Jahr 2013 zum Pfarrer gewählt hat, gehe ich täglich an dem Gemälde „Sieben Kreuze“ vorbei und versuche mich zu orientieren, im Nebel der Narrative um die Kirchensprengung. Über die Jahre hin habe ich viele Menschen gesprochen, die seit Beginn der 80er Jahre in Ost- und Westberlin mit dem notariellen Verkauf, dem daraus folgenden Grundstückstausch und letztlich der Preisgabe der Versöhnungskirche befasst waren.
Neben den von dem Ereignis betroffenen Gemeindemitgliedern und Mitarbeitenden sprach ich einst Verantwortliche beider kirchlicher Bauämter in Ost- und Westberlin. Ich besuchte damals kirchenleitende Personen wie Bischof Martin Kruse und Konsistorialpräsident Manfred Stolpe und traf auch den sicherheitstechnisch verantwortlichen Sprengtechnik-Ingenieur Jürgen Lippok, der vor Ort gewesen war.
Wurde die Versöhnungsgemeinde zum Verkauf des Grundstücks gedrängt?
Ich besuchte die ehemalige Versöhnungsgemeinde in Marzahn-Nord, welche den Versöhnungs-Namen auch in Ostberlin wachhalten sollte, wie die Kirchengemeinde in Berlin-Hohenschönhausen. Deren Heinrich-Grüber-Gemeindehaus konnte im Juli 1988 nur errichtet werden, weil das Baugrundstück erst durch den Tausch mit dem Kirchen-Grenzgrundstück an der Bernauer Straße erworben werden konnte.
In der vielschichtigen Deutung der Kirchensprengung scheint die Ost-West-Teilung fortgeschrieben zu sein. Die Versöhnungsgemeinde sei unter Vortäuschung falscher Tatsachen vom Ostberliner Konsistorium und Manfred Stolpe über den Tisch gezogen und zum Verkauf des Kirchengrundstücks gedrängt worden, lautet verkürzt das eine, bis heute an der Bernauer Straße hörbare Narrativ. Die Preisgabe des Gotteshauses gehöre mit in den Schwung der in Westberlin seit Mitte der 1970er Jahre betriebenen Umwidmung und Preisgabe von mehr als 30 wilhelminischen Kirchen, für die wegen des Mitgliederrückgangs und trotzdem steigender Kosten keine Verwendung mehr bestand.
Musste die Versöhnungskirche aus Not verkauft werden?
Eine andere Erzählung lautet so: Die unzugängliche und eingemauerte Kirche an der Bernauer Straße, auf Ost-Territorium, aber im Besitz einer West-Gemeinde, stand mit auf dieser Liste. Obwohl sie als spirituelles Mahnmal im Mauerstreifen hätte erhalten bleiben können, wurde sie ohne Not verkauft. Vom nüchternen Sachgrund des Grundstückstausches, der den Bau eines Gemeindehauses in Ostberlin ermöglichte, drang damals und heute am wenigsten ins Bewusstsein.
Mit dem Buch „Versöhnung im Schatten der Mauer“ konnte die Versöhnungsgemeinde als Herausgeberin in Kooperation mit der Stiftung Berliner Mauer eine aktualisierte Übersicht der verschiedenen Sichtweisen zur Zerstörung der Versöhnungskirche vorlegen. Die Kirche verfiel vor ihrer Sprengung ein Vierteljahrhundert lang unzugänglich in einer Nische der Grenzanlagen und erfuhr – trotz ihrer Sichtbarkeit – das Bedrängnis einer in Ost und West weitgehend vergessenen Inhaftierten. Sie steht zeichenhaft für den Versuch der DDR-Regierung, sich der religiösen und spirituellen Symbolkraft kirchlicher Orte und Gebäude zu entledigen. In unserer heutigen Reflektion und Erinnerung der Ereignisse kann ein Grundprinzip christlicher Existenz deutlich werden: Kern und Mitte kirchlichen Handelns waren und sind letztlich keine Ziegel oder Steine von Kirchengebäuden. Sondern Menschen, und ihr authentisches Suchen, Hoffen und Zweifeln: Das alltägliche Leben zwischen Widerstand und Anpassung, unter den jeweiligen Bedingungen in Ost und West.