Die Bernauer Straße, an der Grenze zwischen den Berliner Stadtbezirken Wedding und Mitte, atmet so ziemlich auf jedem Zentimeter Geschichte. Vor allem die Teilung der Stadt durch den Bau der Mauer prägt diesen Ort. Tausende Touristen aus dem In- und Ausland besuchen jedes Jahr die Gedenkstätte Berliner Mauer und auch die Kapelle der Versöhnung. Am 9. November feiern jedes Jahr Menschen die Öffnung der Mauer im Jahr 1989.
Der 9. November in der Bernauer Straße ist jedem Fall ein Tag des Erinnerns. Auch an die dunklen Zeiten. An Menschen, die unsere Nachbarn waren und wegen ihres Glaubens systematisch verfolgt wurden. 1930 lebten noch über 300.000 Jüdinnen und Juden in Berlin. Am 20. Januar 1942 wurde auf der Wannseekonferenz die „Endlösung der Judenfrage“ beschlossen. Zu dieser Zeit lebten noch 58637 Jüdinnen und Juden in Berlin. Bis zum Kriegende wurden in 63 Transporten von Berlin 55.000 jüdische Menschen deportiert.
Die Bernauer Straße als letzte Adresse
1938 war dieser Novembertag in ganz Deutschland ein Zerstörungstag. Jüdische Einrichtungen wurden zum Ziel antisemitischer Pogrome, der Beginn der Verfolgung und späteren systematischen Vernichtung der jüdischen Bevölkerung. Auch in der Bernauer Straße wohnten damals jüdische Familien. Im September dieses Jahres wurden vor dem Haus in der Bernauer Straße 96 vier Stolpersteine verlegt. Sie erinnern an die Familie Moddel. Bei der Verlegung war Ben Kempler dabei. Er stammt aus dem US-amerikanischen Texas und lebt heute in Berlin. An dieser Stelle hier erzählt er die Geschichte seiner Familie:
„Die Bernauer Straße 96 ist die letzte Adresse, an der die Familie meiner Großmutter wohnte. Sie waren insgesamt acht Personen, die Eltern Ernestine und Louis Moddel (meine Urgroßeltern) und ihre sechs Kinder Sidonie, Selma, Frieda, Margot (meine Oma) und die Zwillinge Lisa und Lothar. Die Familie stammte aus Posen, dem heutigen Poznań, einer ehemaligen deutschen Provinz, die nach dem Ende des Ersten Weltkrieges durch die Versailler Friedensverträge 1920 dem Staat Polen zugeschrieben wurde.
Mehr als 85.0000 Deutsche mussten Polen verlassen
Mein Urgroßvater Louis Moddel besaß eine Brennerei in Posen, meine Großmutter Margot erinnerte sich, dass sie als kleines Mädchen in einer schönen Wohnung mit Parkettboden und Balkon lebte. Dieses komfortable Leben mit der Flucht aus Polen fand in Berlin ein Ende. Über 85.0000 Deutsche, egal ob jüdisch oder nicht, mussten Polen verlassen. Sie wurden enteignet und konnten nur mitnehmen, was sie tragen konnten. Die Ausfuhr von Geld war auch begrenzt. Meine Urgroßeltern fingen hier in Berlin-Wedding neu an. Sie lebten hier in diesem Arbeiterbezirk unter beengten Wohnverhältnissen direkt an der Bernauer Straße. Mein Urgroßvater Louis eröffnete einen Zeitungs- und Zigarettenladen in der Swinemünder Straße, aber durch die Inflation waren die Zeiten doppelt hart. Er starb 1924.
Meine Urgroßmutter Ernestine Moddel war Witwe mit 39 Jahren und musste jetzt sechs Kinder alleine großziehen. Ich habe mich oft gefragt, was das für eine starke Frau gewesen sein muss. Denn nun musste sie allein das Zeitungs- und Zigarettengeschäft führen. Die drei Töchter Frieda, Selma und Margot heirateten in den 1930er Jahren und zogen aus der Wohnung in der Bernauer Straße 96 aus.
Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges 1939 lebt meine Urgroßmutter Ernestine mit den Kindern Sidonie und den Zwillingen Lisa und Lothar hier. Lisa verwarf noch vor 1939 die Möglichkeit, nach Australien auszuwandern. Ihr Freund wollte sie heiraten und mitnehmen. Aber sie wollte ihre Mutter nicht alleine lassen. Lisa tauchte 1939 unter und ging in den Widerstand. Am 9. Dezember 1942 wurde Ernestine mit ihren Kindern Sidonie und Lothar in der Wohnung abgeholt, um später nach Auschwitz deportiert zu werden.
Meine Urgroßmutter Ernestine wurde von der Gestapo gefoltert, damit sie den Aufenthaltsort von Lisa preisgibt. Lisa erfuhr davon und hielt es 50 Tage aus. Am 29. Januar 1943 stellte sich die 21-jährige Lisa der Gestapo, auch in der Hoffnung, ihre Mutter zu retten. Dem war natürlich nicht so. Alle vier Moddels wurden nach Auschwitz deportiert.
Zwangsarbeit statt Scheidung
Drei Töchter der Familie überlebten die Shoa und den Krieg. Zwei von ihnen waren mit nicht-jüdischen Männern verheiratet. Frieda heiratete Herbert Loppnow und wohnte in der Oderberger Straße im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg und Selma heiratete Fritz Beilicke und zog in die Steegerstraße im Gesundbrunnen, beide nicht weit von hier. Beide Ehemänner zogen die Zwangsarbeit vor und ließen sich nicht von ihren jüdischen Ehefrauen scheiden. Was für eine Liebe das gewesen sein muss! Fritz Beilicke starb durch die Strapazen der Zwangsarbeit während des Krieges schon 1950.
Frieda starb 1982 in Ostberlin, sie lernte ich nicht kennen. Selma, die in Westberlin wohnte, habe ich sehr gut kennengelernt.
Meine Oma Margot heiratete 1938 und zog in die Große Hamburger Straße um. Sie konnte mit meinem Opa im Sommer 1939 kurz vor Ausbruch des Krieges nach England flüchten. Erst nach dem Krieg sind sie von England nach Texas (USA) ausgewandert.“
Bis Juli 2024 wurden 10753 Stolpersteine in Berlin verlegt. Jeder neue Stein erzählt aufs Neue eine Geschichte von unseren früheren Nachbarn, an die es zu erinnern gilt.