Gewaltiges und Gewalttätiges schuf Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin. Auch 100 Jahre nach seinem Tod kehrt keine Ruhe um den Gründervater der Sowjetunion ein. Schuld daran: ein einflussreicher Hobbyhistoriker.
Wladimir Putin denkt gern groß. Kurz vor dem Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 verkündete der russische Präsident leicht abschätzig, dass das Nachbarland eigentlich eine Schöpfung Lenins gewesen sei. Eine unhaltbare Aussage, meint der Bonner Osteuropa-Historiker Martin Aust. Seine Kollegin Ricarda Vulpius von der Uni Münster zeigte in einem Gastbeitrag für die “Frankfurter Allgemeine Zeitung” auf, wie der “dilettierende Präsidialhistoriker” die wechselvolle Geschichte zwischen Russland und der Ukraine zugunsten der Erzählung von einer “allrussischen Nation” zurechtbog. Lenin habe lediglich kurzzeitig Zugeständnisse an die Nationalbewegung in der Ukraine gemacht, die es allerdings schon weitaus länger gegeben habe.
Tatsächlich hatte Wladimir Iljitsch Uljanow, der vor 100 Jahren, am 21. Januar 1924 starb, ganz anderes im Sinn: nichts weniger als eine Weltrevolution. Als sich spätestens 1921 abzeichnete, dass daraus nichts werden würde, beschränkten sich Lenin und die Bolschewiki auf die Heimat und schufen die Sowjetunion. Der Weg dorthin war steinig, von Zufällen gesäumt und mündete letztlich in Diktatur und Terror.
Geboren wurde der spätere Revolutionsführer am 22. April 1870 in Simbirsk an der Wolga. Seine Kindheit und Jugend prägte das untergehende Zarenreich. Früh machte der Sohn eines Lehrers Erfahrungen mit Heimatlosigkeit und politischer Gewalt. Sein älterer Bruder Alexander wurde 1887 hingerichtet, weil er sich einer Gruppe angeschlossen hatte, die den damals regierenden Zar Alexander III. ermorden wollte.
Auf Alexander III. folgte Nikolaus II. Auch der regierte mit harter Hand, und doch entglitten ihm die Zügel der Macht immer mehr. Ein Drittel Russlands befinde sich “im Zustand verschärfter Überwachung”, beklagte der Schriftsteller Lew Tolstoj 1902 in einem Brief an den Zaren. Der Absolutismus sei “eine überlebte Regierungsform”.
Im selben Jahr erschien – unter dem Pseudonym “Lenin” – eine programmatische Schrift mit dem Titel “Was tun?”, mit der sich Uljanow in der Szene von Weltverbesserern und Umstürzlern einen Namen machte. Das Pamphlet war in München entstanden, einem von vielen Exilorten Lenins. Später kamen unter anderem London und Paris hinzu.
Von Zürich aus ging es dann 1916 endgültig zurück in die Heimat. Mitten im Ersten Weltkrieg, auf einer Zugfahrt quer durch das deutsche Kaiserreich, das mit diesem Coup die politischen Verhältnisse in Russland durcheinanderbringen wollte. “Dass er sich dort durchsetzen würde, war zu diesem Zeitpunkt keinesfalls ausgemacht”, so Aust.
Doch Lenin ergriff die Gunst der Stunde. Trotz chaotischer Machtverhältnisse am Ende des Ersten Weltkriegs, trotz zunehmender gesundheitlicher Probleme und seiner Neigung zu unkontrollierten Wutausbrüchen blieb er ein “politischer Krieger”; seine Aggressionen verstand er laut Biograph Robert Service, in politisches Kapital umzumünzen.
Im Jahr 1922 erlitt Lenin einen ersten Schlaganfall. In der Folge halbseitig gelähmt, konnte er sich später nur noch schriftlich äußern. Martin Aust zufolge hätte er nach seinem Abgang eine kollektive Führung bevorzugt. Stattdessen setzte sich Stalin durch. Er hob den bereits unter Lenin aufgebauten Terrorapparat aus Massenerschießungen und Straflagern in neue, schreckenerregende Dimensionen.
Lenins einbalsamierten Leichnam ließ Stalin in einem Mausoleum vor dem Moskauer Kreml aufbahren. Dort liegt er heute noch. Üblicherweise wird der Zustand des Körpers ungefähr alle zwei Jahre überprüft – zuletzt im Februar 2022. Regelmäßig gibt es dann auch Debatten darüber, ob die sterblichen Überreste nicht endlich bestattet werden sollten, was die russisch-orthodoxe Kirche in der Vergangenheit mehrfach forderte. Bislang blieb Lenin eine letzte Ruhestätte verwehrt.
Putin pflege ein eher distanziertes Verhältnis zum Gründervater der Sowjetunion und denke eher in den Kategorien des alten Zarenreichs, sagt Aust. Die nach dem Ersten Weltkrieg erfolgte Bildung von Nationen an den Rändern des ehemaligen Reichs sehe der Präsident als Fehler. “Konkret meinte er damit Staaten wie Finnland, Lettland, Litauen und Estland sowie Belarus, die Ukraine und Georgien.”