Der Archäologe Gabriel Zuchtriegel hat buchstäblich den Untergang vor Augen: Der aus Deutschland stammende Wissenschaftler leitet seit 2021 die Ausgrabungsstätte Pompeji – eine Stadt am Golf von Neapel, die durch den Ausbruch des Vesuv im Jahr 79 binnen eines Tages ausgelöscht wurde. Im Gespräch mit der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) äußert er sich zu Endlichkeit und zu den Sorgen einer “Letzten Generation”.
KNA: Herr Zuchtriegel, wie leben Sie im Angesicht der Katastrophe?
Zuchtriegel: Im Grunde wie alle anderen auch, nur dass uns in Pompeji besonders bewusst ist: Wir wissen nicht, wie viel Zeit uns beschieden ist. Insofern ist Pompeji eine drastische Verdichtung dieser allgemein-menschlichen Situation.
KNA: Welche Rolle spielen für einen Archäologen die Angst vor Endlichkeit?
Zuchtriegel: Wie Palliativmediziner oder Bestattungsunternehmer begegnen wir täglich der Endlichkeit, dem Vergessen, auch der Unvorhersehbarkeit – und können uns doch nicht ständig emotional darauf einlassen. Wir müssen ja unsere Arbeit machen. Aber dann kommt es doch zu Momenten, in denen diese Distanz zusammenbricht. Als wir einmal zwei Opfer des Vulkanausbruchs ausgruben, sagte ein Kollege: “Das sind eigentlich wir.” Die wissenschaftliche Distanz, der analytische Blick wird immer wieder auch durchbrochen von der Einsicht, dass es Menschen wie wir sind, mit denen wir umgehen.
KNA: Steckt in der konservierenden Tätigkeit der Archäologie auch ein Versuch, das Vergessenwerden zu überwinden?
Zuchtriegel: Die Idee mag eine Rolle spielen, aber das ist völlig illusorisch. In unserem Universum ist nichts unendlich; die Sonne selbst wird irgendwann verglühen. Die Zeugnisse vergangener Kulturen können wir versuchen zu bewahren, aber es ist immer ein Kampf gegen die Zeit, und wir wissen, wer gewinnen wird. Die Zeit gewinnt am Ende immer, denn sie hat unendliche Geduld.
Archäologie führt am Ende auf eine, wenn man so will, spirituelle Einsicht hin: dass alles endlich ist. Wer, wie es im Neuen Testament heißt, sein Haus nicht auf Sand bauen möchte, wird in dieser Welt nicht fündig. Dann muss man sich aufmachen, um anderswo zu suchen.
KNA: Und wo werden Sie fündig?
Zuchtriegel: Im Neuen Testament, vielleicht die schwierigste und faszinierendste Ausgrabung meines Lebens. Man meint die Sätze zu kennen, aber jedes Jahrzehnt Lebenserfahrung schürft einen tieferen Sinn zutage.
KNA: Was macht die Faszination Pompejis bei Ihren Besuchern aus?
Zuchtriegel: Viele sind zuerst einmal überwältigt davon, was sich aus der Antike erhalten hat, von der Schönheit und dem Einblick in das Alltagsleben. Dann sickert die Erkenntnis durch, dass im Hintergrund ein schreckliches Ereignis steht: Pompeji wurde vom Vulkan begraben, viele Menschen starben. Wir sehen noch heute, wie Leute versuchten, sich in Sicherheit zu bringen, und von einem einstürzenden Dach erschlagen wurden. Am Ende kam die heiße Asche und hat den Menschen und Tieren, die noch hier waren, den Garaus gemacht.
KNA: Eine apokalyptische Szene …
Zuchtriegel: … was damals auch so empfunden wurde. Plinius der Jüngere, dessen Onkel, ein Forscher und General, bei der Katastrophe umkam, schreibt, dass viele dachten, es sei das Ende der Welt angebrochen, eine ewige Finsternis. Wer damals in Pompeji war, sah ja nicht, dass ein paar Kilometer weiter in Neapel und Pozzuoli das Leben weiterging.
KNA: Trotzdem steht Pompeji bei vielen Heutigen zuerst für Luxus und verfeinerte Lebensart. Inwieweit ist diese Stadt ein Spiegel unserer Gesellschaft?
Zuchtriegel: Man kann ja so in den Spiegel schauen, dass man sieht, was man sehen möchte. Pompeji fasziniert durch die großen Stadtpaläste – das Haus der Vettier, die Villa der Mysterien und so weiter. Aber die Mehrzahl der Häuser bestand aus kleinen Wohnungen, es waren enge, prekäre Lebensverhältnisse. Diese Geschichte ist noch zu erzählen. Wir versuchen das aktuell mit der Ausstellung “Das andere Pompeji”. Die Forschung muss sich noch in diese Richtung entwickeln: Was können wir darüber herausfinden, wie 80 Prozent der Bevölkerung damals lebten, die in den Schriftquellen so gut wie gar nicht vorkommen? Und wie sollte dies das Bild verändern, das wir von der antiken Welt an unser Publikum vermitteln?
KNA: Da arbeiten Sie also auch am gesellschaftlichen Selbstverständnis.
Zuchtriegel: Wir Archäologen stehen ja nicht außerhalb der Gesellschaft. Wie wir in den Spiegel gucken – um im Bild zu bleiben -, hängt immer auch damit zusammen, was für Visionen, Fragen, Perspektiven wir aus unserer Umwelt aufnehmen. Es gibt nicht auf der einen Seite die Archäologie, die objektive Wahrheiten produziert, und auf der anderen Seite die Gesellschaft, die mehr oder weniger subjektiv damit umgeht. Wir sind alle Teil eines großen Gesprächs: Wie fähig sind wir, uns an Veränderungen anzupassen und Veränderungen vorzunehmen? Welche Spannbreite von Veränderungen können wir in der Vergangenheit messen?
KNA: Wenn Sie auf drohende Untergänge unserer Zeit schauen, auch die Ängste einer “Letzten Generation” – hat Pompeji da eine Botschaft?
Zuchtriegel: Gesellschaften tendieren dazu, obsessiv auf gewisse Risiken zu schauen, sich manchmal auch davon lähmen zu lassen. Denken Sie an frühere Epidemien, oder an die Angst vor der ewigen Verdammnis, die im Mittelalter extrem wirksam war. Ob solche Risiken real sind oder nicht, sie entwickeln eine eigene Dynamik, die bestimmend wird und andere Risiken vergessen lässt. Die Leute in Pompeji sorgten sich vielleicht über Versorgungsengpässe, Kriege, Revolten – aber wohl kaum wegen eines Vulkanausbruchs, weil sie schlicht nicht mehr wussten, dass der Vesuv ein Vulkan ist. Und dann kam es ganz anders. Manchmal passiert etwas, wovor man gar keine Angst hat. Und dann ist es noch schlimmer als das, worüber man sich seit Jahrzehnten Sorgen gemacht hat.