Mit Olga Zhukova bin ich am vergangenen Samstag zu einem Zoom-Gespräch verabredet. Sie sitzt in einem Hotelzimmer in Zürich, wo sie am Abend zuvor ein Orgelkonzert gegeben hat. Im Bild erscheint auch ihre Freundin Dariia Lytvishko. Während des Gesprächs fragt Olga Dariia einige Male auf Russisch nach dem richtigen deutschen Wort; denn, so erklärt sie: „Im Deutschkurs haben wir nicht die Wörter gelernt, um über Krieg zu sprechen.“
Wie geht es Ihnen seit Ausbruch des Krieges?
Dariia Lytvishko: Kurz gesagt: Die ersten Tage waren nur Wut und Hass. Ich habe es nicht geschafft, die Hände vom Handy zu lassen; immer habe ich auf Nachrichten gewartet. Nach und nach beruhigt man sich etwas, weil der Körper den Stress auf die Dauer gar nicht aushält. Aber ich merke, dass mein Kopf die ganze Zeit damit beschäftigt ist und ich mich ganz schlecht auf andere Dinge konzentrieren kann. Immer wieder kochen meine Gefühle hoch. So was habe ich noch nie erlebt.
Olga Zhukova: Ich habe noch nicht richtig realisiert, was eigentlich geschieht. Ich träume jede Nacht von Krieg, und wenn ich morgens aufwache, fühlt sich alles total surreal an. Mein Herz ist zerbrochen, wenn ich an die Menschen in der Ukraine denke – aber auch an die russischen Menschen, die sich gegen den Krieg aussprechen und jetzt in Russland in Gefahr sind.
Haben Sie Kontakt zu Ihren Familien?
Dariia: Meine Mutter konnte inzwischen die Ukraine verlassen und ist nach einer langen Fahrt bei mir zuhause in Deutschland angekommen. Aber mein Vater ist noch in Lutsk in der Westukraine. Dort gibt es zum Glück keine Kämpfe, aber Männer dürfen das Land nicht verlassen.
Olga: Ich habe natürlich Kontakt zu meiner Familie, aber ich kann jetzt nicht mehr nach Russland fahren, um sie zu besuchen, weil keine Flüge mehr stattfinden und es für mich zu gefährlich werden könnte. Ich habe hier ganz klar gegen den Krieg Position bezogen, in den Sozialen Medien und auf einer Demo, bei der ich mit Dariia war. Das ist inzwischen in Russland ein Verbrechen; Menschen, die sich gegen die russische Politik äußern, drohen bis zu 15 Jahre Gefängnis. Ich persönlich kann aber nicht nur zuschauen.
Was hören Sie aus der Ukraine über den Krieg?
Olga: Ich habe eine gute Freundin dort, von der ich eine Sprachnachricht bekommen habe. Darauf höre ich die Sirenen und wie sie weint. Ich habe ihr gesagt: Ruf mich an, dann können wir etwas reden – aber sie sagt: Hier kann niemand mehr reden. Wir können nicht essen, nicht schlafen, nur noch beten. Ich selbst habe dann sehr stark gebetet, dass sie wenigstens etwas schlafen kann. Das ist ja das Einzige, was ich tun kann.
Dariia: Ich bekomme naürlich ganz viele Videos und Nachrichten aus den Kriegsgebieten. Die übersetze ich und poste sie auf Facebook, damit die Menschen hier auch das sehen, was die Nachrichten nicht zeigen. Mir ist klar, dass es in diesem Krieg auch um Informationen geht; darum poste ich nur das, was mir wirklich glaubwürdig erscheint.
Sie sind Freundinnen, stammen aber aus Ländern, die jetzt miteinander Krieg führen. Was bedeutet das für Sie?
Olga: Ich bin froh, dass ich mit Dariia reden kann über diese Mischung aus verschiedenen Emotionen. Ich sage jeden Morgen zu ihr: Das kann nicht wahr sein! Niemand hat damit gerechnet, auch in Russland nicht. Wir haben doch in Büchern und Filmen immer gesehen, wie schrecklich Krieg ist. Unsere Omas und Opas haben gesagt: Krieg darf nie wieder passieren. Und jetzt sitzen die Menschen in einem Keller und hören die Bomben fallen! Ich kann das nicht verstehen, nur ahnen – das ist die Hölle.
Dariia: Wir sind in Sicherheit, nicht so wie die Menschen dort, wo die Bomben fallen und Menschen sterben. Aber auch wir leiden, haben Angst und machen uns Sorgen. Von heute auf morgen hat sich alles verändert. Bisher war das Studium wichtig, die Karriere, die Lebensplanung – und jetzt schaust du und es ist alles so unwichtig geworden. Das fühlt sich ganz verrückt an, und es hilft uns beiden, dass wir miteinander reden können.
Sie arbeiten beide für die Kirche – hilft Ihnen Ihr Glaube weiter?
Olga: Ich bete ganz viel und lese in der Bibel. Da steht: Du sollst nicht töten! Glaube und Krieg passt einfach nicht zusammen. Es gibt russisch-orthodoxe Priester, die den Krieg unterstützen; wie wollen sie das erklären? Ich weiß allerdings auch von russischen Priestern, die sich gegen den Krieg aussprechen.
Dariia: Ich zweifele gerade eher, und ich glaube, das ist ganz normal. Ich kann jetzt auch nicht beten; ich möchte handeln! In den Kirchengemeinden, in denen ich arbeite, wurde ich gefragt, wie man helfen kann. Das ist es, was für mich zählt. Menschen, die sich zusammentun und Solidarität zeigen, weisen für mich auf den Glauben hin.
Wo können Sie selbst helfen?
Dariia: Wir werden am nächsten Samstag ein Benefiz-Konzert in der Christuskirche in Herford spielen, das mit Hilfe der Pfarrerinnen und Pfarrer dort organisiert wurde (siehe Angaben unten). Die Spenden, die wir dort sammeln, sollen direkt an die Flüchtlinge aus der Ukraine gehen. Dieses Benefiz-Konzert möchten wir gern auch an anderen Orten wiederholen.
Olga: Außerdem wollen wir in Zukunft so viele Konzerte wie möglich spielen und einen Teil der Einnahmen immer an die Flüchtlinge oder direkt an die Ukraine spenden.
Dariia: Ich werde jetzt für meine Familie einen Großteil der finanziellen Verantwortung übernehmen. Durch die Konzerte hätte ich die Möglichkeit, für meine Familie zu sorgen und zugleich meinen Landsleuten zu helfen. Solche Konzerte wären für mich ein sehr wichtiges Zeichen des Friedens.
Olga: Für mich sind diese Konzerte ebenfalls ein wichtiges Zeichen der Solidarität. Wir können nicht einfach zu Hause bleiben und nichts tun. Wir müssen irgendwie helfen!
Wo sehen Sie Ihre Zukunft?
Dariia: Den Beruf der Kirchenmusikerin gibt es nur in Deutschland. Darum möchte ich hierbleiben – das war auch schon vor dem Krieg mein Plan.
Olga: Ich möchte auch Kirchenmusikerin in Deutschland werden, am liebsten in einer Gemeinde mit dem vollen Programm: Chöre, Kinderchöre, Orgelmusik … Meine Eltern sagen jetzt auch: Bleib in Deutschland, da bist du sicher. Die Vorstellung, dass ich meine Familie vielleicht jahrelang nicht sehen kann, ist natürlich schrecklich und will immer noch nicht in meinen Kopf. Aber ich versuche mir zu sagen: Stopp, glaub nicht das Schlimmste. Glaub an ein Wunder! Im Markus-Evangelium habe ich gerade gelesen, wie Jesus sagt: Dein Glaube hat dich gerettet. Das sollen wir Menschen nicht vergessen.
Mit Dariia Lytvishko und Olga Zhukova sprach Anke von Legat.