Mit Blick auf das meist jugendliche Alter von islamistischen Attentätern fordert der Islamwissenschaftler Mouhanad Khorchide, bei der Prävention bereits in den Schulen anzusetzen. So sollte über Radikalisierung sowie über problematische Stellen der islamischen Schriften aufgeklärt werden, sagte der Leiter des Zentrums für Islamische Theologie an der Universität Münster dem Evangelischen Pressedienst (epd). Aber auch die Moscheegemeinden müssten mit digitalen Auftritten stärker auf junge Menschen zugehen und gegen den Hass die Botschaft eines weltoffenen Islam setzen.
epd: In Solingen und auch davor wurden Anschläge häufig durch junge radikalisierte Muslime begangen. Teilen Sie die Einschätzung, dass sich islamistische Propaganda über soziale Medienplattformen wie Tiktok zunehmend an jüngere Menschen richtet?
Khorchide: Wir stellen in den letzten Jahren einen Wandel in der Radikalisierungsszene in zweierlei Hinsicht fest. Zum einen werden die sich Radikalisierenden immer jünger. Zum Beispiel waren die Planer des kürzlich verhinderten Attentats auf ein Taylor-Swift-Konzert in Wien 17 und 19 Jahre alt.
Und zum zweiten geschieht Radikalisierung heute in erster Linie über Social Media. Die Angebote laufen dort weniger über eine rein religiöse Sprache, sondern in einer emotionalen Sprache. Es geht dann um einen vermeintlichen Opferstatus der Muslime weltweit. Sie seien Opfer von westlicher Ungerechtigkeit. Mit dieser Erzählung über einen islamfeindlichen und diskriminierenden Westen können sich viele junge Menschen identifizieren. Und so stigmatisiert die islamistische Propaganda den Westen zu einem Feindbild.
epd: Wogegen genau richtet sich dieser Hass und wieweit lässt sich dies religiös begründen?
Khorchide: Für Islamisten gilt die Scharia als einzig legitime Gesellschaftsordnung. Diese gehe auf Gott zurück. Nur Gott darf ihrer Überzeugung nach Gesetze erlassen, nicht jedoch die Menschen. Daher werden Demokratie und Menschenrechte im Namen der Religion abgelehnt. Dazu kommt, dass der Westen mit Kreuzzügen, Kolonialismus, Kriege im Nahen Osten und Unterstützung von diktatorischen Regimen in dieser Region assoziiert wird. Der Westen hat ein Image-Problem unter vielen Muslimen. Dies wird von Islamisten allerdings instrumentalisiert, um im Namen des Islams aktiv gegen westliche Gesellschaften vorzugehen.
epd: Wie können junge Muslime präventiv erreicht werden, was lässt sich gegen die Werbung für Islamismus und Gewalt setzen?
Khorchide: Muslimische Gemeinden sind herausgefordert, sich nicht nur von Terror im Namen des Islams zu distanzieren, sondern zugleich für Alternativdeutungen des Islams zu sorgen. Dies gilt ebenfalls für den islamischen Religionsunterricht an öffentlichen Schulen, durch den junge Musliminnen und Muslime leicht erreicht werden können. Das setzt jedoch voraus, dass das Thema Radikalisierung und Umgang mit Gewaltpositionen innerhalb der heiligen Schriften des Islams sowie innerhalb der islamischen Lehre zum festen Bestandteil der Lehrpläne des islamischen Religionsunterrichts werden müssen – und dies ab dem letzten Grundschuljahr.
Auch die kritische Auseinandersetzung mit den Internetpredigern sollte in den Lehrplänen, nicht nur des islamischen Religionsunterrichts, verankert werden. Daher sollten die Lehrpläne dringend reformiert werden. Die Institution Schule bietet einen strukturierten Zugang zu fast allen jungen Menschen in Deutschland.
epd: Was halten Sie von Verboten von Hasspredigten?
Khorchide: Islamistische Hassprediger sollten ohne Wenn und Aber verboten werden, auch und vor allem in den digitalen Medien, auch wenn sie nicht direkt zu Gewalt und Terror aufrufen. Es sollte reichen, dass sie antiwestliche Propaganda und zugleich islamistische Inhalte verbreiten, um deren Auftreten zu verbieten. Aber solche Verbote allein reichen nicht aus.
epd: Was ist zusätzlich wichtig?
Khorchide: Sowohl Moscheegemeinden als auch vom Staat geförderte Projekte müssen dringend in die Pflicht genommen werden, Alternativangebote in den sozialen Medien mit dem Bild eines weltoffenen Islams zu verbreiten. Diese sollten sich an der Lebenswirklichkeit der jungen Menschen heute orientieren. Sie sollten einfache Botschaften vermitteln, mit denen sich Jugendliche leicht identifizieren können. Die Moscheegemeinden müssen verstehen, dass die traditionelle Gestaltung ihrer Aufgaben überholt ist. Digitale Auftritte sollten zu einem selbstverständlichen Bestandteil der Aktivitäten der Moscheen werden.
Entscheidend ist aber auch die Etablierung einer positiven Erzählung über das Leben der Muslime in Deutschland. Islamisten verwenden Begriffe wie „Antimuslimischer Rassismus“ inflationär, um sich vor jeglicher, auch berechtigter, Kritik zu immunisieren, aber auch um den Westen als rassistisch zu stigmatisieren.
epd: Welche Botschaften sollten stattdessen vermittelt werden?
Khorchide: Es ist wichtig, ins Bewusstsein der Muslime zu rufen, dass es Muslimen hier gut geht. Dass Muslime hier die Religionsfreiheit haben und geschützt werden wie in den meisten islamischen Ländern nicht. Muslime können hiermit Moscheen bauen, sie können hier Predigten halten, die – solange sie im Rahmen der Verfassung sind – nicht kontrolliert werden. In den meisten muslimischen Ländern werden die Predigten dagegen vorgegeben. In Deutschland haben Muslime die Freiheit, islamischen Religionsunterricht an öffentlichen Schulen zu besuchen und islamische Theologie an den Universitäten zu studieren. Der Bundespräsident und die Ministerpräsidenten würdigen den Ramadan, Kirchen laden ein zu gemeinsamen Feiern. Das sind ja positive Aspekte.
epd: Wieweit spielt das Thema der Radikalisierung von jungen Muslimen bei der Ausbildung in Ihrem Zentrum für Islamische Theologe eine Rolle?
Khorchide: Eine zentrale Rolle. Denn die Mehrheit unserer Studierenden besteht aus Multiplikatorinnen und Multiplikatoren, die später an Schulen, in Ministerien, in Stiftungen und in zivilgesellschaftlichen Einrichtungen ein weltoffenes Islambild tragen sollten.
epd: Nach Anschlägen wie in Solingen mehren sich Stimmen für eine restriktivere Migrationspolitik. Wie sollte Ihrer Meinung nach Migration und Integration politisch gestaltet werden?
Khorchide: Es müssen klare Kriterien erstellt und eingehalten werden, wer ins Land darf und wer nicht. In der Asylszene müssen wir viel mehr Menschen mit einem vernünftigen Bild von Islam einsetzen, um ihre Landsleute aus Syrien, aus Afghanistan aufzuklären. Man versteht dann dieselbe Sprache, man versteht die kulturelle Sprache. Solche Leute können viel schneller erfassen: Wer könnte gefährlich sein? Wer kommt mit einem extremistischen Gedankengut zu uns? Der 26-jährige Täter von Solingen kam aus einer syrischen Stadt, die eine Hochburg des IS war. Das heißt, man hätte hier alarmiert sein können, wenn man genau recherchiert hätte oder wenn es eine Kommunikation mit der syrischen Community gegeben hätte.
Wir sollten Flüchtlingen schon frühzeitig an die Hand nehmen. Möglichst früh im Asylverfahren. Auch müssen sich positive Erzählungen über das friedliche Zusammenleben im Bewusstsein der Muslime etablieren.
epd: Haben Sie dafür konkrete Beispiele vor Augen?
Khorchide: In meiner Arbeit in einem Projekt mit jungen Menschen, die sich im Gefängnis deradikalisiert haben, beobachte ich, wie gerade die kleinen Gesten, die entscheidenden in diesem Prozess waren. Dass etwa ein Gefangener gefragt wurde, ob er einen Gebetsteppich benötigt, oder sich für das Halal-Essen anmelden oder einen Koran möchte, reicht schon, um sein Bild vom Westen als „Islamfeind“ zu irritieren oder sogar zu korrigieren. Mir scheint es, dass wir viel mehr solcher Gesten in unserer Gesellschaft benötigen. Manchmal hilft ein freundliches Wort, eine Einladung zum gemeinsamen Kaffeetrinken oder zum gemeinsamen Essen, aber auch jede Geste der Wertschätzung viel mehr als große Maßnahmen. Hier ist jeder und jede von uns gefordert.
epd: Welche Folgen sehen Sie nach dem Anschlag in Solingen für die Muslime in Deutschland?
Khorchide: Einerseits steigen die Ängste der Muslime selbst, unter Generalverdacht zu geraten. Andererseits steigen die Ängste in der Bevölkerung vor dem Islam und den Muslimen. Rechtspopulisten werden solche Ereignisse instrumentalisieren, um Ängste noch stärker zu schüren, um die Gesellschaft zu polarisieren. Daher ist es wichtig, dass Muslime ihre Stimme laut erheben und gegen Terror und Gewalt im Namen ihrer Religion protestieren und klare Botschaften des Friedens nach Innen richten.