Elke Heidenreich redet gern Klartext, wie in ihrem neuen Buch über das “Altern”. Im Interview erklärt sie, warum die Leute mehr lesen sollten – und warum man dankbar sein kann, alt zu werden.
Mit Büchern wurde sie bekannt, mit Else Stratmann berühmt – jetzt hat Autorin Elke Heidenreich ein furioses Buch übers Altern geschrieben und es beim zehnten Sylter Literaturwochenende vorgestellt. Ein Festival, das die 81-Jährige gegründet hat, um die trüben Novembertage aufzuhellen. Die Katholische Nachrichten-Agentur (KNA) sprach mit ihr übers politische Lesen und Schreiben, Gendern und warum sie vielleicht gern 105 Jahre werden will.
KNA: Frau Heidenreich, Donald Trump wurde gerade wiedergewählt, die rot-gelb-grüne Koalition ist geplatzt – merkwürdiger Zeitpunkt für ein Literaturfestival, oder?
Heidenreich: Das weiß man ein Jahr vorher, wenn die Planungen für so ein Festival beginnen, noch nicht. Aber vielleicht ist der politische Zeitpunkt auch perfekt, um der Welt zu zeigen, dass Literatur, Kultur, Kunst trotz der Wahl und dem Zusammenbruch der Bundesregierung eine Rolle spielen. Aber wissen, Sie, warum es für meine Lesung noch ein sehr seltsamer Termin war?
KNA: Na?
Heidenreich: Weil er in der Kirche stattfand, wo auch Christian Lindner geheiratet hatte. Wünschen wir ihm mal, dass seine Ehe länger hält als seine Regierung. Ansonsten geht mein normales Leben aber einfach weiter. Und auch die Leute, die vor der Kirche Schlange standen, wollten offenbar für eine Stunde an was anderes denken.
KNA: Wobei Literatur ja nicht nur der Ablenkung dienen kann, sondern auch der Konfrontation.
Heidenreich: Natürlich. Durch die Jahrhunderte hindurch wurden immer zuerst Dichter, Sänger, Schriftsteller in die Gefängnisse der Potentaten gesteckt und mundtot gemacht. In Chile brach man Victor Jara die Hände, damit er keine Protestlieder gegen Pinochet spielen konnte. Das zeigt, wie groß die Angst der Tyrannei vor den Wahrheiten der Kunst ist. Obwohl wir – so sehr darin alles grad drunter und drüber geht – in einer funktionsfähigen Demokratie leben, sollten wir uns dessen immer bewusst sein.
KNA: Hatten Sie in dem halben Jahrhundert, das Sie bereits im Literaturbetrieb stecken, immer dieses Sendungsbewusstsein?
Heidenreich: Ganz sicher. Aber nicht nur, weil es zur Literatur gehört, sondern mir selber wichtig war. Deswegen war ich über die Jahrzehnte hinweg fast missionarisch, die Leute ans Lesen zu bringen, um sich den Problemen der Realität zu stellen – ob Liebe, Krankheit, Politik oder wie in meinem neuen Buch: das Altern. Literatur kann da nicht nur Denkimpulse geben, sondern tröstlich sein und demütig machen, Teil einer Demokratie zu sein, in der alle sagen dürfen, was sie denken.
KNA: Bezogen aufs Altern schreiben Sie dazu: Man sollte einfach atmen und dankbar sein.
Heidenreich: Also nicht nur jammern, sondern weiterleben. Altern ist ein Geschenk. Das Geschenk, leben zu dürfen.
KNA: Darf man das Altern trotzdem auch ätzend finden?
Heidenreich: Klar, aber ich fand Jugend ätzender. Ich bin ein sehr glücklicher 81-jähriger Mensch. Mit 20 war ich als ketterauchendes Kind von Nazi-Eltern, das von Lehrern ständig Prügel bezogen und im Studium ein möbliertes Zimmer anstatt ein Zuhause hatte, viel unglücklicher. Heute denke ich an jedem neuen Tag: Was tun wir Schönes?
KNA: Zum Beispiel auf dem Langen Literaturwochenende Sylter Privathotels lesen, das Sie vor zehn Jahren mitbegründet haben. Ist das eher Eskapismus oder Konfrontation?
Heidenreich: Eine Mischung. Mit Arno Geiger oder Giovanni di Lorenzo sind ja sehr politische Gäste dabei. Aber wir wollen ja nicht unentwegt belehrt, sondern auch gut unterhalten werden. Ablenkung ist wichtig. Beides schafft dieses Festival auch, um zu zeigen, dass Sylt mehr als Sommerfrische und Weihnachtszauber bietet. Die Leute kommen Anfang November teilweise von weit her, die Lesungen sind voll, die Hotels ausgebucht. Der Bedarf ist da.
KNA: Sind Sie selbst eher Typ Sommerfrische oder Herbstnebel?
Heidenreich: Herbstnebel, unbedingt. Die Jahreszeit, die ich am meisten verabscheue, ist der Sommer: zu heiß, zu aufdringlich, zu nackt, überhaupt nicht mein Ding. Im Frühling mühe ich mich oft vergeblich, mit ihm um die Wette zu sprießen. Aber im Herbst, wenn oben die Kraniche ziehen und unten der Nebel steht, bin ich glücklich.
KNA: Unglücklich macht Sie hingegen der aktuelle Umgang mit der deutschen Sprache.
Heidenreich: Oh ja.
KNA: Von Korrekturen alter Werke wie dem “Negerkönig” bei “Pippi Langstrumpf” halten Sie nichts?
Heidenreich: Oder der Oberindianer bei Udo Lindenberg. Das macht mich nicht nur unglücklich, sondern empört. Ich finde, das ist Schwachsinn. So wie man die Musik von Wagner nicht ändert, hat man auch nicht in Literatur herumzupfuschen. Und das Gendern hasse ich sogar noch mehr, das werde ich niemals tun.
KNA: Viele empfinden es als Respekt vor der menschlichen Diversität.
Heidenreich: Also ich möchte mich durch “*innen” ebenso wie Susan Sontag nicht aufs Mädchen in mir reduzieren lassen. Ich bin Autor, verdammt noch mal. Ich bin Schriftsteller. Wenn andere das machen, akzeptiere ich es, nehme mir aber das Recht heraus, es scheußlich zu finden.
KNA: Weil es elitär ist?
Heidenreich: Nein, aufgeblasen und dumm.
KNA: Sie selbst waren, als Ihre Kunstfigur Else Stratmann Teil der Popkultur wurde, so etwas wie der kleinbürgerliche Haken im hochkulturellen Feuilleton.
Heidenreich: Was aber auch nur deshalb so gut funktioniert hat, weil ich bereits Teil dieser Hochkultur war. Ich hatte als Germanistin an Kindlers Literaturlexikon mitgearbeitet, gehörte aber auch zu den Gründungsmitgliedern der Popwelle SWF3, um die jungen Leute fürs Radio zu kapern. Dafür haben wir uns irgendwann Kunstfiguren ausgedacht. Michael Bollinger zum Beispiel Gotthilf Penibel und ich als Kind aus dem Ruhrgebiet eben die Else Stratmann.
KNA: Die mit Kissen unterm Bauch durchs Fenster das Leben erklärt.
Heidenreich: Und zwar alles daran, von Königshäusern bis Relativitätstheorie. Hat mir Riesenspaß gemacht. Aber als sie zweimal die Olympischen Spiele kommentiert hatte, ist sie mir über den Kopf gewachsen und hat alles andere überlagert. Außerdem wollte ich schreiben, und zwar als Elke, nicht Else. Seitdem habe ich die nie mehr gespielt.
KNA: Und was sind Sie seitdem?
Heidenreich: Ein Autor, der Bücher, Essays, Kritiken schreibt, Mitglied im Schweizer Literaturclub und aktuell sehr viel mit meinem Buch “Altern” unterwegs.
KNA: Was Sie offenbar vor allem sind: noch längst nicht fertig!
Heidenreich: Darüber denke ich wirklich nicht nach. Man kann mit 27 sterben oder mit 85, was in meinem Alter etwas näher liegt. Aber vielleicht werde ich ja wie eine gute Freundin 105. Und solange man in der Welt ist, sagt der 90-jährige Cees Nooteboom, nimmt man daran auch teil.