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Forscherin zu EU-Asylkompromiss: Geht mehr um Grenzen als um Menschen

Die Migrationsforscherin Judith Kohlenberger sieht in dem EU-Asylkompromiss keine Reform zum Schutz von Menschen. „Es geht fast ausschließlich um den Schutz von Grenzen“, sagte die Forscherin am Institut für Sozialpolitik der Wirtschaftsuniversität Wien am Mittwoch im WDR5-„Morgenecho“. Damit passe die Reform nicht zur Kernidee des Flüchtlingsschutzes. Menschen erhielten „viel mehr Barrieren aufgebürdet, um überhaupt in die Position zu gelangen, einen Asylantrag auf europäischen Territorium zu stellen“, betonte sie.

Am Mittwochnachmittag wollte das EU-Parlament in Brüssel über das Gesetzespaket abstimmen. Ein zentrales Element der Reform ist, dass ankommende Asylbewerber mit geringer Bleibechance schneller und direkt von der EU-Außengrenze abgeschoben werden können. Dahinter stehen die sogenannten Grenzverfahren. Haben Menschen eine Staatsangehörigkeit, deren Anerkennungsquote für Asyl bei unter 20 Prozent liegt, sollen sie in Auffanglagern festgehalten werden. Ihr Anspruch auf Asyl soll dann in einem Schnellverfahren geprüft werden.

„Im Grunde passiert auch das bereits jetzt im sogenannten Hotspot-System, das ja schon seit einigen Jahren gültig ist“, sagte Kohlenberger. Auf diversen griechischen oder italienischen Inseln sei es zu größeren Lagern gekommen. Das Lager Moria auf der Insel Lesbos war im Herbst 2020 abgebrannt. „Und leider droht auch bei dieser Reform diese Art des Rückstaus sich zu bilden, nämlich dann, wenn ankommende Personen nicht rasch genug in diesem Grenzverfahren prozessiert werden können und vor allem dann auch nicht rückgeführt werden können“, erläuterte sie.

Zwar wolle die EU Rückführungen forcieren, jedoch hätten die Herkunftsländer bei den Beschlüssen nicht am Tisch gesessen, betonte die Migrationsforscherin. Und an denen scheitere es oft. Die Lager an den Außengrenzen könnten schnell überfüllt sein, was dann wiederum zu „katastrophalen sanitären Bedingungen“ führe.

Recht wird laut Kohlenberger innerhalb der Europäischen Union zur Anwendung gebracht, aber nicht an den Außengrenzen. „Es handelt sich bei den Außengrenzen schon seit Langem um einen quasi rechtsfreien Raum“, kritisierte die Wissenschaftlerin. „Wir haben es immer wieder mit tätlicher Gewalt zu tun, aber auch mit einer Politik des Sterbenlassens.“ Mit der Reform drohe „eine Verstetigung und eigentlich Verrechtlichung eines unrechtsmäßigen Prozesses“.

Die EU wolle mit der Reform Lösungen in der Migrationsfrage präsentieren, damit die Bevölkerung nicht in die Hände von Rechtspopulisten getrieben werde. „Ich glaube, das ist leider ein Trugschluss, dem man anheimgefallen ist“, sagte Kohlenberger. „Wir sehen sehr deutlich anhand der Ecksteine dieser Reform, dass man hier Positionen und Diskurse von den Extremen, vor allem rechten Rändern übernommen hat und die dadurch erst salonfähig gemacht hat.“