Berlins Sozialsenatorin Cansel Kiziltepe (SPD) schlägt Alarm: Sämtliche Flüchtlingsunterkünfte in der Hauptstadt sind bis auf den letzten Platz besetzt. Bis Mitte September waren bereits so viele Asylbewerber in die Stadt gekommen, wie man es bis Jahresende eingeplant hatte. Die Neuzugänge liegen 40 Prozent über den Vorjahreswerten. Unter den 1 900 Asylbewerbern, die im August neu nach Deutschland kamen, stellen Syrer und Afghanen wie auch in den Monaten zuvor die größten Gruppen. Neu hinzu kommen Kurdinnen und Kurden aus der Türkei. Die Zahl der neu ankommenden Ukrainerinnen und Ukrainer, die vom Land Berlin untergebracht werden müssen, stagniert auf hohem Niveau von 1 000 Personen pro Monat.
Die Zugangszahlen sind vergleichbar mit der Flüchtlingssituation 2015, als Hunderte obdachlose Flüchtlinge vor dem Landesamt für Gesundheit und Soziales (LAGeSo) campierten, die nicht untergebracht werden konnten. Mit drei Unterschieden: Das Wort „Flüchtlingskrise“ nimmt in der Berliner Verwaltung niemand in den Mund. Alle Menschen erhalten ein Bett, wenn auch oft in prekären Massenunterkünften in den früheren Flughäfen Tegel und Tempelhof. Und: Turnhallen werden nicht belegt. Nach dem Willen des Senats soll das auch so bleiben.
Kirche will kurzfristig 50 bis 100 Menschen aufnehmen
Doch was tun, wenn es keinen Platz mehr gibt, wenn mit der Fertigstellung neuer Unterkünfte erst in wenigen Monaten zu rechnen ist? Bis Jahresende klafft eine Lücke von 4500 Betten zwischen Bedarf und Angebot. Statt auf Turnhallen will Berlin auf Kirchen zurückgreifen.
Am 19. September begann Berlin, mit der Dietrich-Bonhoeffer-Kirche in Reinickendorf eine erste Kirche mit Flüchtlingen zu belegen. Das bestätigt der Reinickendorfer Superintendent Thomas Harms. Die Dietrich-Bonhoeffer-Kirche befindet sich auf dem Gelände der ehemaligen Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik. Hier betreibt Berlin das Ankunftszentrum für Asylbewerber, hier liegt aber auch der Maßregelvollzug. Die Kirche dient derzeit der Seelsorge im Maßregelvollzug.
Harms rechnet damit, dass die Kirche kurzfristig 50 bis 100 Menschen aufnehmen kann. „Es entspricht nicht unserem Menschenbild, dass Flüchtlinge obdachlos auf der Straße campieren. Darum bieten wir ein Obdach an. Aber natürlich ist so eine Lösung nicht meine Idealvorstellung, wie man Flüchtlinge unterbringen sollte.“
Eventuell sollen auch Sakralgebäude mit Flüchtlingen belegt werden
Zu Beginn des Ukrainekrieges sei die Kirche nach Angaben der Berliner Landesregierung schon einmal für wenige Wochen mit Flüchtlingen belegt worden. Zahlreiche Ehrenamtler hätten diese rund um die Uhr unterstützt, sagt Harms. Damals ging man aber von vornherein von einer befristeten Situation aus. Das könnte dieses Mal anders sein. Harms schließt nicht aus, dass weitere kirchliche Einrichtungen, auch Sakralgebäude, in Kürze mit Flüchtlingen belegt werden. „Das hängt von der Entwicklung der Flüchtlingsunterbringung ab.“
Doch auch andere Unterkünfte, die Berlin kurzfristig aus dem Boden stampfen kann, sind eigentlich eine Zumutung: So werden bereits jetzt nach den Vorgaben des Senats vorhandene Unterkünfte weiter verdichtet. Das heißt, in Räume, wo normalerweise Kinder toben oder Hausaufgaben machen konnten, sind jetzt Menschen eingezogen. Diese Verdichtung führe dazu, so Manfred Nowak von der Arbeiterwohlfahrt gegenüber der dpa, „dass Qualitätsstandards weiter sinken. Und das wiederum führt dazu, dass die Menschen, die wir zu betreuen haben, zum Teil eben unzufrieden sind.“

Nach Senatsangaben sollen in den nächsten Tagen zwei Großzelte im früheren Flughafen Tegel, in denen bisher Freizeitangebote für die ohnehin beengt wohnenden Ukrainerinnen und Ukrainern stattfanden, mit Betten bestückt und belegt werden. Zwei weitere Großzelte für je 360 Bewohnerinnen und Bewohner sollen neu hinzukommen. Auf dem Flughafengelände wohnen bereits 3 800 Menschen dicht beengt in Zehnpersonenkabinen. Die meisten stammen aus der Ukraine.
Auch im früheren Flughafen Tempelhof sollen neue Kapazitäten erschlossen werden. Bisher sind zwei Hangars und ein Parkplatz mit Wohncontainern bestückt. Ein weiterer Parkplatz soll folgen, ob auch ein weiterer Hangar, ist noch nicht entschieden. Zudem will der Senat 1 500 Plätze in Hotels und Hostels für Flüchtlinge anmieten, erklärt Sozialsenatorin Cansel Kiziltepe (SPD).
Neue Grundstücke sind knapp
Höherwertigere Unterkünfte für Flüchtlinge in sogenannten wohnungsähnlichen Modularen Unterkünften für Flüchtlinge (MUF) sind zwar in Bau, doch sie werden nicht im selben Tempo fertiggestellt, wie der Bedarf steigt. Im vergangenen Jahr entstanden 10000 Plätze auf diese Weise, dieses Jahr sind es 6000. Und neue Grundstücke dafür sind im Stadtstaat Berlin knapp.

Georg Classen vom Berliner Flüchtlingsrat kritisiert den Hang zu „Sammellagern“, in denen die Bewohnerinnen und Bewohner keine Privatsphäre haben und ihr Essen nicht selbst kochen können. Er fordert auch die „schnellstmögliche“ Schließung der „menschenunwürdigen, nach außen strikt abgeschotteten und extrem teuren Massenunterkunft“ auf dem früheren Flughafen Tegel. Dort gebe es nur 2,6 Quadratmeter Wohnraum pro Person, die Schlafkabinen werden nicht nach Geschlechtern getrennt belegt, so Classen.