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Ex-Caritaspräsident Peter Neher sorgt sich um Ton in der Politik

Peter Neher ist katholischer Seelsorger und langjähriger Verbandsfunktionär. Zu seinem 70. Geburtstag blickt er auf die Politik von heute und seine Zeit als Präsident des Deutschen Caritasverbands.

18 Jahre stand Peter Neher an der Spitze des Deutschen Caritasverbands. Zum Ende der Corona-Pandemie ging er in den Ruhestand. Zu seinem 70. Geburtstag blickt er im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) zurück auf bewegte Zeiten und nach vorne.

Frage: Herr Neher, die politischen Zeiten sind unruhig – national und international. Wie verfolgen Sie das Geschehen?

Antwort: Das Internationale verfolge ich mit großer Sorge. Die Wiederwahl von US-Präsident Donald Trump war absehbar, aber er übertrifft jetzt noch die schlimmsten Befürchtungen. Das zeigt sich etwa bei der Zerschlagung der US-Auslandshilfe mit verheerenden Folgen für die Not- und Entwicklungshilfe weltweit. National macht mich die deutlich gestiegene Zustimmung für die AfD hilflos. Ich kann die Gründe nicht nachvollziehen, wie man diese Partei wählen kann.

Frage: Welche Erwartungen haben Sie an die kommende Bundesregierung?

Antwort: Ich halte eine sozial gerechte ökologische Transformation für das zentrale Zukunftsthema. Überfällig ist das Thema Pflege. Wir brauchen dringend eine Stärkung pflegender Angehöriger und Entlastung in der stationären Pflege. Hier laufen die Kosten davon. Dass das Thema Migration so eng geführt wird, ist skandalös. Mich erschüttert das Bashing von Migranten. Große Verdienste von Menschen mit Migrationsgeschichte werden einfach vergessen. Gleichwohl braucht es eine nüchterne Sicht auf dringend nötige Klärungen in der Migrationsfrage – und zwar auf europäischer Ebene. Und wir brauchen die längst überfällige eigenständige Kindergrundsicherung. Da hat die vergangene Regierung leider versagt.

Frage: Laut Koalitionsvertrag wird es Verschärfungen bei der Migrationspolitik geben, eine Kindergrundsicherung ist danach nicht mehr vorgesehen. Wie ist es in der Tonalität in der Politik? War der Ton in den Debatten der vergangenen Wochen und Monaten anders als früher?

Antwort: Das Thema Sozialhilfeempfänger musste immer schon für polemische Debatten herhalten. Schon Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder hat hier zugespitzt oder auch der verstorbene Ex-Außenminister Guido Westerwelle. Aber es ist eine Eskalationsstufe mehr, wenn Bürgergeldempfänger pauschal als Arbeitsverweigerer dargestellt werden. Zumal die Unionsfraktion bei der Reform zum Bürgergeld im Bundestag zugestimmt hat.

Frage: Sie haben den US-amerikanischen Kahlschlag bei der Auslandshilfe erwähnt. Auch in Deutschland wird über Kürzungen bei der Entwicklungshilfe gesprochen. Wie sehen Sie das?

Antwort: Es passt in den Diskurs einer zunehmend egoistisch betriebenen Politik national und international. Dabei ist es völlig kurzsichtig. Die Menschen weltweit haben einen Anspruch auf Entwicklung, Menschenwürde und Zukunft. Und Entwicklungszusammenarbeit ist in einer international vernetzten Gesellschaft ein Wert an sich und auch im eigenen Interesse. Es gibt deshalb gute Gründe für ein eigenständiges Ministerium für Entwicklungshilfe – durchaus getrennt von der Außenpolitik.

Frage: So haben es Union und SPD ja nun auch vereinbart. Ganz oben auf der Agenda steht derzeit auch die Verteidigungspolitik. Manch einer spricht von einem Wettrüsten – ist das im Sinne unserer Sicherheit?

Antwort: Ich habe Verständnis für eine Verteidigungsfähigkeit. Den Begriff “kriegstüchtig” lehne ich aber ausdrücklich ab. Zugleich macht es mir Bauchweh, welche Unsummen weltweit in Rüstung investiert werden. Jetzt meinen die Länder in Europa, nachziehen zu müssen. Wir bräuchten diese Mittel jedoch dringend für einen weltweiten ökologischen Umbau. Ich glaube, hier wurden in der Vergangenheit in der internationalen Zusammenarbeit und dem Vertrauen aufeinander schwerwiegende Fehler gemacht.

Frage: Das heißt, das europäische Miteinander hat nicht funktioniert?

Antwort: Europa hat an vielen Stellen versagt. Besonders deutlich sieht man es bei der Migrationspolitik. Deutschland als EU-Binnenland hat sich lange aus der Verantwortung gezogen. Erst als die Menschen auf der Flucht im eigenen Wohnzimmer standen, hat man nach europäischen Lösungen gerufen.

Frage: Eine Kleine Anfrage der Unionsfraktion, ob einige zivilgesellschaftliche Organisationen zu Recht finanziell gefördert werden, hat viel Kritik hervorgerufen.

Antwort: Die Kleine Anfrage könnte man als einmaligen Ausrutscher sehen. Ich vermute aber eine Strategie dahinter. Offenbar stören sich einige daran, dass sich zivilgesellschaftliche Organisationen politisch engagieren. Diese dürfen sich aber den Mund nicht verbieten lassen.

Frage: Ihre letzten Jahre als Verbandspräsident fielen in die Corona-Pandemie. Wie blicken Sie auf diese Zeit zurück?

Antwort: Es war eine dramatische Zeit. Die Verunsicherung war enorm, denn so etwas kannten wir nicht. Deshalb gab es die große Sorge, dass soziale Strukturen und Dienste wegbrechen – beispielsweise in der Behindertenhilfe – und nach der Pandemie nicht mehr zur Verfügung stehen.

Frage: Der Ruf nach einer Aufarbeitung ist derzeit groß. Teilen Sie ihn?

Antwort: Ja, Aufarbeitung hätte längst geschehen müssen. Jedoch nicht geprägt von einer Frage nach der Schuld, sondern um auf mögliche künftige Pandemien besser vorbereitet zu sein. Ich glaube, dass die politisch Verantwortlichen wirklich ernsthaft darum gerungen haben, in einer solch schwierigen Situation verantwortlich zu handeln. Mit Blick auf Kinder und Jugendliche wissen wir heute, dass die Maßnahmen über das Ziel hinausgeschossen sind. Das gilt auch für Pflegebedürftige und Sterbende.

Frage: Aus Sicht von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ist in der Pandemie viel Vertrauen in öffentliche Institutionen verloren gegangen.

Antwort: Pauschal würde ich das nicht sagen. Ich habe die Pandemie mit einer hohen Bereitschaft der meisten erlebt, sich auf die Herausforderungen und Vorgaben einzulassen. Aber es gab natürlich auch Missstände, die im Nachhinein aufgedeckt wurden, etwa beim Maskenkauf. Das mag Vertrauen gekostet haben.

Frage: Ein Blick zurück, ein Blick nach vorne: Würden Sie aus heutiger Sicht etwas anders machen?

Antwort: Das müssen wohl andere beurteilen (lacht). Bei Erfolgen gibt es immer viele Väter und Mütter. Manche Errungenschaften der vergangenen Jahre sind heute bereits wieder überholt und müssen neu bewertet werden. Das ist so, weil das Leben weiter geht.