“Ach, Europa!” hat Hans Magnus Enzensberger 1987 ein dem ewig unruhigen Kontinent gewidmetes Buch betitelt. Europa ist groß – in seinen Errungenschaften, aber auch in seiner Gewalt-Geschichte.
Europa ist kompliziert. Man kann nicht einmal sagen, wie groß der Kontinent ist. Spötter sprechen vom Wurmfortsatz der asiatischen Landmasse. Die Katholische Nachrichten-Agentur (KNA) versucht sich anlässlich der Wahl zum Europaparlament an einer Definition.
Der Kontinent ist stark zergliedert, reich an Küsten, fruchtbar und größtenteils in einer gemäßigten Klimazone gelegen. Europa ist im Süden, Westen und Norden vom Meer umgeben und insofern klar begrenzt. Im Osten allerdings geht der Kontinent ohne klare geographische Markierung in die Weiten Asiens über. Weder in der Antike noch im Mittelalter hat man sich über die Grenzziehung einigen können; die Frage hat aber auch kaum jemanden interessiert. Im 18. Jahrhundert hat der deutsch-schwedische Geograf Philipp Johann von Strahlenberg den Ural als Grenze vorgeschlagen, was sich im kollektiven Gedächtnis der modernen Europäer als Konvention festgesetzt hat.
Europa definiere sich weniger über seine Geografie als über gemeinsame Geschichte und Kultur, sagt der britische Historiker Christopher Clark. Historiker wie Mark Greengrass oder der Berliner Michael Borgolte sind sich einig, dass die Bewohner des Kontinents sich frühestens seit dem 16. Jahrhundert als Europäer verstanden – also erst, nachdem Portugiesen, Spanier und Niederländer Kolonien in Afrika, Asien und Amerika gegründet hatten. “Europa wäre nicht entdeckt worden ohne die Entdeckung der Neuen Welt”, beschreibt Greengrass ein Paradox. Und Borgolte betont: “Europa als kulturelle Formation ist auch erst ein Thema der Neuzeit; die älteste ‘Geschichte Europas” stammt ebenfalls aus dem 18. Jahrhundert.”
Das ist ziemlich schwierig. Denn auch Griechenland, Rom und Jerusalem selber haben ja von anderen Kulturen profitiert – von Ägyptern und Mesopotamien beispielsweise, von phönizischem Alphabet, babylonischer Astronomie und den Mythen und Religionen ihrer Nachbarn. “Europas Werdegang ist keineswegs eine Einbahnstraße von den alten Griechen bis zur EU”, sagt Clark mit Blick auf oft beschworene geistige Fundamente. Auch der französische Mittelalterhistoriker Jacques Le Goff betont: “Es gab keinen Bauplan.”
Es waren Deutschland, Frankreich, Italien und die Beneluxstaaten, die 1957 die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft gründeten – Länder, deren Territorien im 9. Jahrhundert das Reich Karls bildeten. Mit der Expansion nach Osten hat Karl der Große auch Wesentliches dafür getan, dass Europa weit überwiegend christlich wurde. Aus Sicht des Münsteraner Theologen Thomas Bremer entstand durch das Bündnis des Kaisers mit Papst Leo III. erstmals das Bewusstsein einer lateinisch-christlichen Zivilisation. Damit verbunden hat sich aber auch der Konflikt zwischen lateinischer und orthodoxer Kirche von Konstantinopel und Moskau. Das hatte politische Konsequenzen: Während die Kaiser und Zaren von Byzanz und Moskau sowohl geistliche als auch weltliche Macht für sich beanspruchten, drifteten im lateinischen Westen geistliche und weltliche Macht auseinander – mit positiven Folgen für die Freiheit.
Europa ist kein christlicher Block. Muslime und Juden schufen etwa in Spanien und Sizilien eine mittelalterliche Hochkultur. Sie waren in Medizin, Mathematik und Astronomie lange weit voraus und retteten das Denken der Griechen in die Neuzeit. Ohne den von ihnen geleisteten Transfer fernöstlicher technischer und wissenschaftlicher Errungenschaften wäre Europa nicht so bedeutend geworden. Später trugen sie wesentlich zu Aufklärung und Toleranz bei. Sie wurden allerdings auch verfolgt und beispielsweise aus Spanien ausgewiesen. Dennoch sind Islam und Judentum wichtige Bestandteile Europas geblieben.
Erst die Romantik, beispielsweise der Dichter Novalis, hat Europa im 19. Jahrhundert mit dem “christlichen Abendland” identifiziert. Im Mittelalter sprach man eher von “christianitas” (Christenheit), setzte dies aber nicht mit Europa gleich. Ein besonderes Problem ist der Begriff “christliches Abendland”, weil mit ihm die orthodoxe Christenheit ausgeschlossen wird. Die Behauptung von einem jüdisch-christlichen Abendland ist noch problematischer: Schließlich haben die Christen in Europa die Juden immer wieder ausgeschlossen, verfolgt und ermordet – bis hin zum Holocaust.
Europas Geschichte sei so dynamisch, weil jede Einheit durch neue Dissonanzen wieder infrage gestellt worden sei, nennt Borgolte ein zentrales Bauprinzip. “Der grundlegende und welthistorisch wohl einzigartig erfolgreiche Mechanismus der Geschichte Europas und der europäischen Kultur ist die Fähigkeit zu ständiger produktiver Auseinandersetzung mit fremden Einflüssen.” Auch Le Goff verweist auf die Produktivität vieler Spannungen: Die Konkurrenz zwischen Kaiser und Papst, der Dualismus von geistlicher und weltlicher Macht, stehen an der Wiege europäischer Freiheitsvorstellungen. Personen, die bei Herrschern oder Kirche aneckten, konnten relativ leicht in andere Länder oder an andere Universitäten ausweichen. Auch Agnostiker und Atheisten fanden Publikationsmöglichkeiten, eine kritische Wissenschaftskultur entstand. “Auch der Nichtglaube ist ein europäisches Produkt”, betont Bremer.
Abweichende Bewegungen im Christentum wurden blutig unterdrückt, darunter Katharer und Hussiten. Die Feindschaft zwischen Katholiken und Protestanten verschärfte ab der Reformation bestehende Konflikte. Nach dem Dreißigjährigen Krieg lag die Mitte Europas am Boden. Auch das Christentum habe an Glaubwürdigkeit verloren, schreibt Greengrass. Staaten definierten sich nicht mehr als christlich: Eine weltliche Elite formierte sich, die Machtpolitik in eigener Sache betrieb.
Einen Schub erlebte der Kontinent während der Renaissance im 15. und 16. Jahrhundert. Dass die Europäer – und nicht das damals viel mächtigere China – sich an die Spitze des Fortschritts setzten, führt der Zürcher Historiker Bernd Roeck auf Kolonialbesitz, aufblühende Wissenschaft mit der lateinischen Sprache als länderübergreifendem Band und Buchdruck zurück. China sei aber deshalb ins Hintertreffen geraten, weil es in dem riesigen Reich nur ein einziges Machtzentrum gegeben habe. “In Europa herrschte ständige Konkurrenz.”