Frau Gidion, wie erleben Sie aktuell die Stimmung im politischen Berlin?
Anne Gidion: Ich erlebe die Situation als ausgesprochen angespannt, viele Menschen sind dünnhäutig. Es zeigen sich zahlreiche Konflikte und wenig klare Perspektiven, wie man diese Konflikte lösen kann. Angesichts der Fülle an Herausforderungen ist so etwas wie eine Grundbesorgnis spürbar.
Mit welchen Anliegen treten Politikerinnen und Politiker in diesen Zeiten an Sie heran?
Es gibt einen erhöhten Bedarf an seelsorgerlichen Gesprächen und das starke Bedürfnis nach sogenannten heilsamen Unterbrechungen: Dabei geht es darum, Momente zu erleben, in denen jede und jeder ganz Mensch sein kann und nicht von Statement zu Statement hetzt. Den Wunsch nach dieser Entschleunigung habe ich auch vor Weihnachten sehr stark gespürt. Dafür bieten mein Team und ich zum Beispiel ein Gottesdienstformat an, das genau so heißt: „Heilsame Unterbrechung“. Der nächste Termin liegt in der Passionszeit. Zugleich ist es uns als Kirche wichtig, für Verständigung zwischen den angespannten Menschen zu sorgen. Hier ist die Kampagne der EKD und Diakonie „#Verständigungs-Orte“ ein wichtiger Ansatz.
Warum ist Kirche in der Verantwortung, für Verständigung in dieser Gemengelage zu sorgen?
Kirche hat immer einen Öffentlichkeitsauftrag. In meiner Funktion bin ich die politische „Außenbeauftragte“ der Evangelischen Kirche, also explizit mandatiert, in den Kontakt mit Parlament und Regierung zu gehen. Unsere Aufgabe ist die Kommunikation im Blick auf Themen, die für uns wesentlich sind. Als Vertreterin von Kirche im Politikgeschehen gehört aber auch die Seelsorge zu meinen Aufgaben.
Gehört es zwangsläufig dazu, dass Kirche politisch ist?
Kirche ist parteiisch für bestimmte Anliegen, sie ist immer dann gefordert, wenn es um die Bedürfnisse der Schwächsten in unserer Gesellschaft und in der Welt geht. Und da diese Anliegen auch von den politischen Parteien aufgenommen werden, gibt es in manchen Fragen durchaus thematische Allianzen – oder eben auch Dissense. Kirche ist Teil des Ringens um die Frage, wie Zusammenleben gut gelingen kann. Das ist eine zutiefst politische Frage. Dabei geht es immer auch darum, wofür wir Geld ausgeben und wie wir welche Themen gewichten. In dieser Hinsicht ist Kirche nicht neutral.
Warum tragen Christen Verantwortung für die Demokratie?
Menschenwürde, Nächstenliebe, Zusammenhalt – so heißt die ökumenische Kampagne zur aktuellen Wahl. Christinnen und Christen sind Wählerinnen und Wähler. Jede Stimme zählt. Nicht zu wählen, ist auch eine Wahl. Zu wählen bedeutet, Verantwortung in der Demokratie zu übernehmen. Aus meiner Sicht sind wir verpflichtet, Verantwortung in der Demokratie zu übernehmen. Als Bürgerin bin ich daher auch verantwortlich für die Art und Weise, wie ich mich informiere, wie ich Nachrichten auf ihre Glaubwürdigkeit überprüfe: Wer sagt was mit welchem Interesse? Jede und jeder hat die Verantwortung, sich begründet zu Sachverhalten zu positionieren. Und jeder, der sich öffentlich äußert, sollte sich genau überlegen, was seine Äußerungen bewirken.