Fast jeder fünfte Schüler in Deutschland ist von Mobbing im Internet betroffen. Ein bundesweites Programm will jungen Menschen zeigen, wie schlimm Ausgrenzung sein kann – und zeigt offenbar Wirkung.
Ein Mittwochmorgen an einem Hamburger Gymnasium. Die gut 20 Mädchen und Jungen der Klasse 5b haben sich in einem Stuhlkreis in der Schulbibliothek versammelt. “Ich lese euch jetzt einige Sätze vor”, sagt Sozialpädagoge Holger Hülsemann, den hier alle nur “Holly” nennen. “Jeder und jede auf den der Satz zutrifft, steht bitte auf.” Hülsemann beginnt mit Aussagen wie “Ich esse gerne Pizza.” und “Ich spiele ein Instrument.” Fast alle Schüler springen auf.
Danach wird es persönlicher: “Ich singe unter der Dusche”, “Ich habe ein Lieblingskuscheltier”, “Ich habe schon mal bei einem Film geweint”. Auch bei diesen Sätzen erheben sich fast alle. Reihum erzählen Mädchen wie Jungen, dass sie etwa mit Plüsch-Affen, -Erdmännchen oder -Schweinen schmusen und dass sie beispielsweise ein sterbendes Adlerjunges beim jüngsten Filmnachmittag zu Tränen gerührt hat. “Ich habe immer gedacht, dass ich die Einzige bin, die bei Kinofilmen weint”, stellt eine Schülerin am Ende fest. Viele andere pflichten ihr bei.
Das Spiel ist Teil des Anti-Mobbing-Programms “Gemeinsam Klasse sein”. Mit Hilfe von Übungen, Rollenspielen und Filmen sollen Schüler der fünften bis siebten Klassen darüber ins Gespräch kommen, welche Folgen Mobbing für Betroffene haben kann. Sie sollen lernen, was sie selbst tun können, um Mobbing gar nicht erst entstehen zu lassen, und wie sie wie sie wertschätzend und konstruktiv miteinander umgehen können. Lehrer und Sozialarbeiter werden eigens geschult und können mit Hilfe des Programms bis zu fünf Projekttage gestalten. Es wurde von der Techniker Krankenkasse und der Hamburger Schulbehörde entwickelt. Nach einer Pilotphase in Hamburg, Bremen und Schleswig-Holstein nehmen seit 2019 Schulen in allen Bundesländern daran teil.
Mobbing unter Jugendlichen ist ein dauerhaftes und wachsendes Problem. Vor allem durch die Sozialen Medien nimmt es in jüngster Zeit zu. Derzeit ist laut einer aktuellen Umfrage bundesweit fast jeder fünfte Schüler (18,5 Prozent) von Mobbing im Internet betroffen. Das entspricht rund zwei Millionen Kindern und Jugendlichen. Vor zwei Jahren waren es 16,7 und vor sechs Jahren noch 12,7 Prozent.
Zentrales Element von “Gemeinsam Klasse sein” ist ein Film über ein Mädchen namens Anna, das von seinen Klassenkameraden gemobbt wird. Erst offline mit beleidigenden Sprüchen, dann online in einer eigens gegründete Whats-App-Gruppe mit dem Titel “Alle gegen Anna”. Nach dem Anschauen des Films sind viele Schüler der 5b entsetzt. “Wenn so etwas hier passieren würde, würde ich nicht mitmachen”, meint ein Mädchen.
Sozialpädagoge Hülsemann bestätigt im Gespräch mit der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA), dass Online-Mobbing zunimmt. “Die meisten Schülerinnen und Schüler haben ab der zweiten oder dritten Klasse ein Handy.” Technisch könnten sie das Gerät in der Regel gut bedienen. “Aber sie können die Inhalte, die sie wahrnehmen, noch gar nicht verarbeiten.” In der Regel seien die jungen Menschen noch nicht in der Lage, zwischen Spaß und Ernst zu unterscheiden. Auch dass es ein Recht am eigenen Bild gebe, sei vielen nicht bewusst.
An einer seiner früheren Schulen erlebte Hülsemann, wie eine Schülerin auf der Toilette gefilmt und das Video in den Sozialen Medien hochgeladen wurde. Eine Mitwisserin habe den Vorfall gemeldet; der Ersteller des Videos sei suspendiert worden. In einem anderen Fall sei ein Schüler ständig wegen seiner Hautfarbe beleidigt worden. Höhepunkt sei eine im Netz veröffentlichte Fotomontage gewesen, die ihn als ertrinkenden Flüchtling dargestellt habe.
“Gemeinsam Klasse sein” ist aus Hülsemanns Sicht gut geeignet, um solche Vorfälle zu verhindern. “Es ist immer besser, präventiv zu arbeiten, als wenn das Kind erst in den Brunnen fällt.” Das Gymnasium Finkenwerder habe bereits an der Pilotphase des Programms teilgenommen und biete es nun bereits seit sechs Jahren an. Seither gebe es mehr Schüler, die selbst kleinere Mobbing-Vorfälle melden würden. “Ich habe den Eindruck, dass alle sensibilisiert sind und wissen, wo sie sich Hilfe holen können”, sagt der Sozialpädagoge.
Auch eine Befragung der Techniker Krankenkasse unter mehr als 1.000 teilnehmenden Schülern sowie 45 Lehrern und Schulsozialarbeitern deutet darauf hin, dass das Programm wirkt. So konnten nach der Teilnahme deutlich mehr Schüler bestimmte Wissensfragen zu Mobbing richtig beantworten als zuvor. 87 Prozent der befragten Jungen und Mädchen gaben an, sie fühlten sich durch das Programm besser in die Lage versetzt, Mobbing zu erkennen. Unter den Pädagogen stimmten rund zwei Drittel (67 Prozent) der Aussage zu, dass sich ihr Wissen über Handlungsmöglichkeiten bei Mobbing durch das Projekt vergrößert habe.
In Hamburg ziehen die Schüler der 5b nach dem ersten Projekttag ebenfalls ein positives Fazit. “Der Tag war sehr gut, ich habe sehr viel gelernt”, sagt ein Junge. “Ich gehe hier ziemlich nachdenklich raus”, meint ein anderer. Ein Mädchen erzählt, dass sie selbst schon in der Vorschule gemobbt worden sei. Das sei eine schlimme Erfahrung gewesen. “Gemobbt zu werden – das verdient kein Mensch.”