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“Ein partieller Kontrollverlust ist real und nicht nur eingebildet”

Vor der Bundestagswahl am 23. Februar streitet die Politik in Deutschland vor allem um ein Thema: die Begrenzung der Migration. Am Mittwoch vergangener Woche wurde ein entsprechender Antrag der Union mithilfe der AfD angenommen. Am Freitag bekam ein heftig diskutierter Gesetzentwurf keine entsprechende Mehrheit. Der Konstanzer Europa- und Völkerrechtler Daniel Thym sprach mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) über den Vorstoß von Friedrich Merz (CDU), das „Wir schaffen das“ von 2015 und die Rolle der Kirchen. Thym ist Autor des Buches „Migration steuern. Eine Anleitung für das Hier und Jetzt“ (C.H. Beck), das am 20. März erscheint.

epd: Herr Prof. Thym, was halten Sie vom Vorstoß von CDU-Chef Friedrich Merz, die Migration nach Deutschland künftig wieder strikter zu regeln?

Thym: Deutschland gehört im Asylrecht weiterhin zu den großzügigsten Ländern in Europa. Das ist ein Grund, warum so viele Asylbewerber nach Deutschland kommen. Das funktioniert auf Dauer nicht, weil die Behörden überfordert sind, die Integration leidet und die Akzeptanz in der Bevölkerung schwindet.

Es braucht daher eine Begrenzung der Asylmigration. Ansonsten wendet sich die Bevölkerung früher oder später gegen das Asylrecht und auch die dringend notwendige Wirtschaftsmigration leidet. Das wäre für die Zukunft des Einwanderungslandes fatal.

Davon zu trennen ist die Frage, wie die Asylmigration besser gesteuert werden kann. Kurzfristig würden die Maßnahmen von Friedrich Merz wahrscheinlich funktionieren, im Sinn einer abschreckenden Signalwirkung nach innen und außen. Mittel- und langfristig braucht es jedoch einen besser durchdachten Plan mit ausbalancierten Interventionen entlang der Reiserouten. Innerstaatliche Maßnahmen reichen auf Dauer nicht. Im Wahlkampf muss man vereinfachen. Dennoch wünschte ich mir, dass CDU und CSU die kurzfristigen Effekte mit langfristigen Strategien verbinden würden.

epd: Hat sich Deutschland mit dem „Wir schaffen das“ der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel übernommen?

Thym: Die Situation 2015/16 war eine ganz andere als heute. Damals hatte Deutschland 15 Jahre lang sehr niedrige Asylzugangszahlen erlebt. Die Hoffnung war daher berechtigt, durch eine Kombination nationaler, europäischer und internationaler Reformen auf Grundlage der bestehenden Instrumente, die Asylmigration mittelfristig wieder in den Griff zu bekommen. Das machte Angela Merkel auch: vor allem im Ausland war sie hart, nicht nur durch die EU-Türkei-Vereinbarung.

Heute ist die Situation eine andere. Ein „Weiter-so“ mit kleineren Reformen hier und dort erweist sich zunehmend als Illusion. Ich hätte mir gewünscht, dass Angela Merkel das in ihren Memoiren reflektiert, was sie nicht tut. Es ist also kein Widerspruch, wenn man die Entscheidungen von 2015/16 prinzipiell für richtig hält, zugleich jedoch in der Gegenwart und Zukunft eine andere Marschroute einschlägt.

epd: In der aktuellen Debatte heißt es vielfach, Kontrollen und Zurückweisungen an den deutschen Grenzen seien rechtlich nicht möglich.

Thym: Es steht nicht abschließend fest, ob die Kontrollen rechtmäßig sind oder nicht. Viele Argumente sprechen dagegen, aber einige auch dafür. Das werden in letzter Instanz die Gerichte entscheiden, wenn sie eine sehr vage formulierte Notstandsklausel auslegen.

Meine Vermutung ist, dass die Antwort des Europäischen Gerichtshofs auch davon abhängt, was eine künftige Bundesregierung macht. Die Richter in Luxemburg werden einen dauerhaften nationalen Alleingang, der die Länder in der EU entzweit, nicht akzeptieren. Wenn die deutschen Zurückweisungen in eine diplomatische Initiative eingebunden sind, um die EU-Asylpolitik neu aufzustellen, dürfte die richterliche Akzeptanzbereitschaft größer sein. Es wäre daher essenziell, dass Friedrich Merz vor und nach den Zurückweisungen eine gesamteuropäische Koalition bildet.

epd: Nicht wenige haben den Eindruck, Deutschland habe die Kontrolle über die Asyl- und Migrationsströme komplett verloren.

Thym: „Komplett“ ist die Kontrolle definitiv nicht verloren. Deutschland und die anderen EU-Länder managen und begrenzen die Asylmigration durchaus mit Erfolg. Italien zum Beispiel nimmt zwar derzeit keine Asylbewerber aus Deutschland zurück, erreichte durch einen politisch und moralisch umstrittenen Deal mit dem tunesischen Präsidenten jedoch, dass binnen eines Jahres die Zugangszahlen über das Mittelmeer um über die Hälfte sanken. Davon profitiert auch Deutschland.

Dennoch liegt bei der Einreise, der Integration und der Abschiebung viel im Argen. Ein partieller Kontrollverlust ist also real und nicht nur eingebildet. Deshalb ist es essenziell, dass Deutschland und Europa der Bevölkerung das Gefühl vermitteln, wieder halbwegs die Kontrolle zu haben. Ansonsten erodiert die Akzeptanz des Asylrechts und es passierte in der EU dasselbe wie in Kanada und den USA: über kurz oder lang würde das Asylrecht geschleift.

epd: Wie beurteilen Sie die ökumenische Stellungnahme der Kirchen zum Entwurf des sogenannten „Zustrombegrenzungsgesetzes“, speziell deren Äußerungen zum Familiennachzug? Machen die Kirchen da nicht die Bergpredigt und eine daraus folgende Gesinnungsethik zum Maßstab politischen Handelns?

Thym: Wenn die Kirchen sich nur auf die Bergpredigt beschränkt hätten! Das Papier zitiert die Bibel kein einziges Mal, dafür mehrere juristische Quellen – und diese zu meiner großen Überraschung noch veraltet. Das Positionspapier behauptet eine Verfassungs- und Europarechtswidrigkeit, obwohl es Urteile aus den letzten Jahren gibt, die das europarechtliche Argument vergleichsweise eindeutig widerlegen und das Ganze auch verfassungsrechtlich anders sehen, solange es eine Härtefallklausel gibt. Diese sehen die Gerichte in Paragraph 22 des Aufenthaltsgesetzes, den der Gesetzentwurf nicht abschafft. Es gibt also gewichtige juristische Gegenargumente, die das Positionspapier ausblendet. (0255/04.02.2025)