Stefan Jakob Wimmer von den “Freunden Abrahams” sieht mit Sorge auf den Jahrestag des Hamas-Überfalls auf Israel. Im Bemühen, Antisemitismus zu bekämpfen, werde dieser noch geschürt. Er selbst plant einen Schweigemarsch.
Zum Jahrestag des Terrorüberfalls der Hamas auf Israel sind in deutschen Städten etliche Solidaritätskundgebungen und auch Gegendemonstrationen angemeldet. Der im interreligiösen Dialog engagierte Münchner Orientalist Stefan Jakob Wimmer (61) erläutert in einem Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA), was dabei aus seiner Sicht schiefläuft. Und Konflikte eher noch anheizt.
KNA: Herr Wimmer, für das Existenzrecht Israels eintreten und für die Rechte der Palästinenser – das scheint nach dem 7. Oktober 2023 kaum noch zusammenzugehen. Oder täuscht der Eindruck?
Wimmer: Nein. Und er macht mich fassungslos, weil ich nicht verstehe, warum sich das widersprechen sollte. Wir sind darin gefangen, die Fronten zwischen pro Israel oder pro Palästinenser zu ziehen. Dabei stehen sich auf beiden Seiten Menschen gegenüber, die den Konflikt gern friedlich und gerecht lösen würden, und solche, die das verhindern. Ich halte es für fatal, sich nur mit einer Konfliktpartei als Ganzer zu solidarisieren statt mit den Opfern auf allen Seiten.
KNA: Ein Friedensgebet aller Religionen auf dem Marienplatz kam bis heute nicht zustande. Ist das symptomatisch?
Wimmer: Für die Lage in München leider ja. Seit dem 7. Oktober 2023 sind die Widerstände gegen den Dialog noch stärker geworden. Dabei brauchen wir gerade jetzt mehr davon. Dazu gehört auch, Positionen auszuhalten, die wir nicht selbst vertreten, vielleicht nicht einmal anhören wollen. Da starten Muslime eine Initiative, öffentlich und sichtbar mit jüdischen, christlichen und anderen Menschen gemeinsam um Frieden zu beten. Und dann werden sie ausgebremst. Verheerend!
KNA: Antisemitische Vorfälle haben in Deutschland seither sprunghaft zugenommen, aber auch Fälle von Islamfeindlichkeit. Gibt es da einen Zusammenhang?
Wimmer: Laut zahlreichen Untersuchungen hat Islamfeindlichkeit sogar noch stärker zugenommen als der Antisemitismus. Islamfeindlichkeit ist auch stärker in der Mitte der Gesellschaft verankert. Nun werden entsetzlicherweise jüdische Menschen pauschal in Haftung genommen für die Politik Israels. Und umgekehrt Muslime dafür verantwortlich gemacht, dass Israel attackiert wird. Beides sollte gemeinsam bekämpft werden, dann wird dieser Kampf glaubwürdig und effektiv.
KNA: Der Konflikt im Nahen Osten eskaliert, eine Lösung scheint entfernter denn je. Wie lässt sich verhindern, dass er das kulturelle und religiöse Miteinander hierzulande vergiftet?
Wimmer: Das ist die entscheidende Frage und zugleich unsere Aufgabe. Leider läuft seit einem Jahr viel in die falsche Richtung. Sprechverbote und Distanzierungsgebote wirken verheerend, gerade in Klassenzimmern, wo viele Schüler einen Migrationshintergrund haben. Sie können einem jungen Menschen nicht vorgeben, was er sagen darf. Und dann noch erwarten, dass er umdenkt. Das Gegenteil wird der Fall sein. Wenn wir da nicht das Ruder herumwerfen, verlieren wir eine ganze Generation.
KNA: Sie sprechen auch von der “deutschen Verantwortungsfalle”. Was meinen Sie damit?
Wimmer: Es gibt natürlich eine bleibende Verantwortung, die aus der deutschen Geschichte und der Schoah resultiert. Eine Falle wird daraus, wenn wir in diesem Bewusstsein gegen Antisemitismus vorgehen wollen, ihn aber de facto schüren. Und wenn wir aus Solidarität mit Israel mitverantwortlich werden am Leid anderer. Wenn wir Menschlichkeit nach Zugehörigkeit bemessen.
KNA: Wie soll man sich also in Deutschland solidarisieren?
Wimmer: Auch bei großen Kundgebungen finden bisher selektive Lagersolidarisierungen statt. Das Leid anderer wird geringer gewertet oder gar verschwiegen. Ich fürchte, dass das am Wochenende auch wieder so sein wird. Ich weiß von vielen, die gerne Gesicht gegen Antisemitismus zeigen würden. Sie haben aber die Sorge, dann von vielen Israel-Fahnen umgeben zu sein, so dass es so aussieht, als würden sie sich ohne Wenn und Aber zur Politik Netanjahus bekennen, und das möchten sie nicht. So spaltet man die Gesellschaft immer weiter, anstatt wirksam gegen Antisemitismus vorzugehen.
KNA: Mit Ihrem interreligiösen Verein “Freunde Abrahams” planen Sie am Sonntagabend eine eigene Kundgebung in München – ohne Reden, Fahnen, Plakate und Flugblätter, nur mit Kerzen. Weil Worte in dieser Situation mehr schaden als nützen?
Wimmer: Das ist unsere Erfahrung aus dem vergangenen Jahr, als Worte, die von Muslimen kamen, um die Hamas zu verdammen, um sich zu distanzieren, dann trotzdem falsch ausgelegt und gegen sie verwendet worden sind. Und das ist bis heute der Fall. Da bleibt nur Schweigen. Wir tragen einfach unsere Fassungslosigkeit auf die Straße, auf einem Weg der Stille.
KNA: Ihr Lichterzug endet am Friedensengel. Dort soll es eine Zeichenhandlung geben. Wie wird die aussehen?