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Doppelt und dreifach isoliert

Besucher sind ausgesperrt, aber Pfarrer gelten als „systemrelevant“: Nie war die Gefängnisseelsorge so wichtig wie jetzt.

Von Uli Schulte Döinghaus

Neuerdings ersetzt Pfarrer Hans Zimmermann den Präsenzgottesdienst seiner Gemeinde durch eine „Postille“, wie er selbstironisch sagt. Der pensionierte Pfarrer ist Gefängnisseelsorger, seine Gemeinde die Inhaftierten der Justizvollzugsanstalt (JVA) Berlin-Moabit. Bisher war es so, dass sich an den Sonntagen 30 bis 40 Männer in der Kapelle der JVA versammelten, um gemeinsam einen evangelischen Gottesdienst zu feiern. Regelmäßig predigte Hans Zimmermann, sprach die Fürbitten, das Vaterunser und gab den Segen. Davor und danach kam es zu Gesprächen untereinander oder zu Zwiegesprächen mit dem Seelsorger. 

Und heute? Gottesdienste, zu denen die Besucher dicht an dicht in den Bankreihen sitzen, die gibt es auch im Knast nicht mehr. Deshalb behelfen sich Hans Zimmermann und seine Amtskolleginnen und -kollegen mit der „Postille“, einer kleinen Druckschrift, die vor den Sonntagen in einer Auflage von 100 Exemplaren in den Zellen verteilt wird. Darin enthalten: Gebete, Gedanken, Liedtexte. Zu einem vereinbarten Zeitpunkt finden sich die diensthabenden Pfarrer sonntags in der Kapelle ein, beten, singen, predigen dort allein. Zur gleichen Zeit sind die Gefangenen eingeladen, in ihren Zellen mitzufeiern. „Das Angebot kommt an“, sagt Pfarrer Zimmermann.

Leidenschaftlich appellieren er und seine Kolleginnen und Kollegen in den Justizvollzugsanstalten in Brandenburg, Berlin und Görlitz: „Vergesst die Gefangenen nicht!“ Untersuchungsgefangene und Strafgefangene seien jetzt doppelt und dreifach eingesperrt und isoliert, bräuchten Seelsorge, auch um des wackligen Anstaltsfriedens willen. Es gibt so gut wie keine Besuchserlaubnisse, die Familien bleiben ausgesperrt, nur Anwälte sind erlaubt. Weiterbildungsangebote und Sportgruppen sind gestrichen, selbst bei Freigang auf dem Hof gelten Abstandsgebote. Die beliebten Chorproben für Auftritte, die manchmal die Gottesdienste einrahmten, fallen flach. Ansonsten: kein Internet, keine Besuche von Freunden oder Freiwilligen, ab und zu ein Telefonat. Isolation. Vergessenheit.

Am Palmsonntag wäre eine landeskirchenweite Kollekte für die Gefängnisseelsorge geplant gewesen. Das Geld entfällt, mit dem zum Beispiel Altarschmuck oder auch Lektüre eingekauft wird. Auch um die Spendeneinnahmen für die Initiative „Kirche im Gefängnis e.V.“ sei es nicht so gut bestellt, sagt der Vereinsvorsitzende Manfred Lösch. Im Ehrenamt ist der pensionierte Pfarrer zugleich Gefängnisseelsorger im „Offenen Vollzug“ in Berlin. Erst neulich hat er ein Benefizkonzert absagen müssen, dessen Erlös der verdienstvollen Arbeit der haupt- und ehrenamtlichen Gefängnisseelsorger zugutegekommen wäre.

Immerhin gelten Gefängnisseelsorger als „systemrelevant”. Gespräche mit den Seelsorgern außerhalb der engen Zellen sind möglich – und bitter notwendig, wie auch Uwe Breithor bestätigt, Gefängnisseelsorger in der JVA Heidering südlich von Berlin, wo knapp 600 Gefangene inhaftiert sind. 40 bis 50 von ihnen nehmen „normalerweise“ die Gelegenheit wahr, sich zu Gottesdiensten in einem Raum zu versammeln, den alle Glaubensgemeinschaften nutzen. Viele vermissen jetzt die Tasse Kaffee danach. Und die Gespräche und Begegnungen abseits des rauen und durchgetakteten Gefängnisalltages, in denen es manchmal um Sinnfragen und Spiritualität geht, meist um die Alltagsfragen der Seelsorge: „Was ist mit meiner alten Mutter? Wer kümmert sich?“ Jetzt sind Seelsorger wie Breithor willkommene Gesprächspartner, bei denen Ängste und Frustrationen formuliert werden, „Dampf abgelassen“ wird. 

Im relativ kleinen Männergefängnis mitten in Görlitz sind rund 100 Straf- und 100 Untersuchungsgefangene inhaftiert, viele stammen aus benachbarten polnischen oder tschechischen Regionen. Matthias Pommeranz ist Pastor der dortigen Evangelisch-Reformierten Gemeinde und auch als Gefängnisseelsorger tätig. „Die U-Häftlinge machen sich Sorgen, wie es mit ihren Gerichtsverhandlungen weitergeht, ob die Termine wegen Corona abgesagt oder verschoben werden“, erzählt er. Der Pastor besucht die Gefangenen, die ihn zuvor schriftlich um ein Gespräch gebeten haben, in ihren Zellen und versucht, Abstand zu halten. Junge Männer, oft mit Suchtbiografien, sprechen plötzlich von Partnerinnen und den gemeinsamen Kindern, die sie lange vernachlässigt hätten. „Ich bin ihr Zuhörer“, sagt Matthias Pommeranz – manchmal aber auch in Glaubenszweifeln der religiöse Begleiter, dem es darum geht, „Menschen und Gott zusammenzubringen“. 

Und weil Pastor Pommeranz immer in buchstäblicher Sorge um die Bibel ist, hat er regelmäßig Zigarettenpapier dabei, wenn er Zellenbesuche macht. Dünnes „Bibelpapier“ wird im Görlitzer Knast gerne zum Rauchen zweckentfremdet, wenn das Geld für die Blättchen mal wieder ausgegangen ist. Pastor Pommeranz weiß Rat.

Spenden für die Gefängnisseelsorge:Verein „Kirche im Gefängnis“, Weberbank Berlin, IBAN: DE89 1012 0100 6121 2000 06