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“Diese Akten einfach abzuheften, wäre ein zweites Verschulden”

Von 1933 bis 1945 haben die Nationalsozialisten Menschen denunziert, verschleppt, zu Zwangsarbeit missbraucht und getötet. In Erinnerung an diese NS-Unrechtsverbrechen geht zum 80. Jahrestag des Weltkriegsendes eine neue App mit dem Titel „Nazi Crimes Atlas“ online. Das Projekt wird später eine Karte mit rund 25.000 juristisch belegten Naziverbrechen zeigen, die an etwa 8.000 Orten im heutigen Deutschland verübt wurden, sagt Projektleiter Wolfgang Hauck im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd). Im ersten Teil werden 3.000 Fälle der Novemberpogrome von 1938 veröffentlicht. Herausgegeben wird die App vom Landsberger Verein „dieKunstBauStelle“, den Hauck gegründet hat.

epd: Herr Hauck, damit die NS-Gräuel nicht in Vergessenheit geraten, haben Sie eine App entwickelt. Was ist daraus zu ersehen?

Hauck: Auf einer digitalen Karte der heutigen Bundesrepublik sind über 25.000 Verbrechen an rund 8.000 Orten abrufbar, die nach 1945 juristisch verfolgt wurden und in Gerichtsakten nach 1945 in den Archiven verzeichnet sind. Die Verbrechen selbst wurden in der Zeit von 1933 bis 1945 verübt. Der digitale Atlas in der App enthält jeweils eine kurze Tatbeschreibung und die Fundstelle in den Archiven.

epd: Wie sind Sie auf die Zahl von 8.000 Orten gekommen?

Hauck: Die Zahl ergibt sich aus den Tatorten und in unserer Datenbank und entspricht damit etwa 80 Prozent aller deutschen Städte. Wenn Sie den Atlas aufmachen und nur auf die judenfeindlichen Pogromverbrechen schauen, dann haben Sie da 3.000 Pins. Das sind die Pogromverbrechen, die nach 1945 noch verhandelt wurden, weil sie so schlimm waren wie Brandstiftung, Mord und schwerste Körperverletzungen. Die App und das Projekt sollen laufend weiterentwickelt werden.

epd: Die Datensammlung ist also immens, aber umfasst sie alle Verbrechen?

Hauck: Nein, es gibt eine ganz hohe Dunkelziffer – Verbrechen, die nicht juristisch verfolgt wurden, weil zum Beispiel die Opfer und die Täter 1945 oder später schon verstorben waren und es keine Gerichtsverhandlungen gab. Wir können zwar alle Gerichtsakten benennen, aber nicht alle NS-Unrechtsfälle, denn die sind weitaus höher.

epd: Diese App legt nahe, dass viele Taten in kleinen Dörfern und einfach überall geschahen. Sie wurden vergessen oder waren wenig bekannt.

Hauck: Im Fokus der Erinnerungsarbeit lagen häufig große Städte wie München, Köln und Berlin oder die Konzentrationslager. In den Daten tauchen aber auch jene „Alltagsverbrechen“ von unbekannten Bürgern auf, nicht nur die Taten von prominenten Nazi-Führern. Ein Beispiel: In Landsberg am Lech hat sich – wie in keiner anderen deutschen Stadt – NS-Geschichte fokussiert. 1920 erfolgte in Landsberg die dritte Gründung einer NSDAP-Ortsgruppe nach München und Tegernsee. Wie unsere wissenschaftliche Leiterin Edith Raim betont, überfiel der Nationalsozialismus Landsberg nicht wie ein Virus, sondern er ist dort großgeworden und gewachsen, was bis heute nicht so im Bewusstsein ist.

In den letzten Kriegsmonaten ab Juli 1944 kam dazu, dass man Landsberg auswählte, um unterirdische Produktionsanlagen für Düsenjäger zu bauen. Aus Auschwitz und anderen Konzentrationslagern wurden jüdische Zwangsarbeiter nach Landsberg transportiert, um diese Bauwerke zu errichten. Das war Vernichtung durch Arbeit. Deshalb gab es um die Stadt herum elf Außenlager des Konzentrationslagers Dachau.

epd: Halten Sie den Umfang der heutigen Aufarbeitung oder Partizipation für ausreichend?

Hauck: Es gibt heute viele Aktivitäten der Aufarbeitung. Mit der App zeigen wir, dass es noch viel mehr Partizipation und Identifikation geben kann. In einem zweiten Teil des Projekts wollen wir Initiativen und Institutionen dabei unterstützen, neue Formate zu entwickeln und sich mit dem Thema zu befassen, damit es nicht auf der Ebene des historischen Wissens bleibt, sondern zum Leben erweckt wird. Es muss einen Dialog mit der Gesellschaft geben, wie wir damit umgehen. Würde man es abheften oder ins Regal stellen, wäre es ein zweites Verschulden, wenn wir diese Verbrechen aus dem Bewusstsein verbannen.

epd: Der digitale Atlas soll fortlaufend weiterentwickelt werden. Welches Projekt steht als nächstes an?

Hauck: Wir veröffentlichen nun nach und nach weitere Tatkomplexe wie die Krankenmorde und Euthanasiefälle, das sind weitere etwa 500 Gerichtsfälle. Des Weiteren wird es um Denunziationen oder die Endphasenverbrechen gehen, aber auch um Verbrechen am politischen Gegner. Das Erschreckende an diesem Projekt ist die Bandbreite. Bis Jahresende wollen wir aber den Bestand der 25.000 Daten überarbeitet haben. Das Projekt wird von der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft mit Mitteln des Bundesfinanzministeriums gefördert. (1556/09.05.2025)