„Liebe Schwestern und Brüder“ – mit diesen Worten begrüßt der 82-jährige Christian Gehlsen die rund 80 Gäste zum offenen Bürgergespräch vier Tage vor der Landtagswahl in Brandenburg. Auf dem Podium sitzen nur Vertreter von AfD und BSW. Gehlsen war 1975 bis 1990 Heimleiter des Wichernheims der Diakonie, war Bürgerrechtler in der Friedlichen Revolution 1989. Demnächst soll er das Bundesverdienstkreuz erhalten, aber er sagt, das nähme er nicht, es wäre ihm „suspekt“. Er sorgt sich um die Demokratie und will „Dinge, die festgefahren sind, die zugefroren sind, wieder in Bewegung bringen“.
Sein Verhältnis zur „offiziellen Kirche“ scheint allerdings frostig. Der Frankfurter Superintendent Frank Schürer-Behrmann hat den früheren Pfarrer „nicht wahrgenommen als aktiven Mitorganisierenden der vielen Aktionen kirchlicher Akteure für eine inklusive Stadt und gegen Ausgrenzung“. Gehlsen ist nicht aus der Kirche ausgetreten, hat aber mit der Institution „nichts am Hut“, sieht sich „unabhängig“. Es sei „schade, dass Kirche sich diesem konstruktiven Ansatz nicht öffnet“. Der lautet: die Frankfurter „Stadtgesellschaft ins Gespräch bringen“, ohne die „Mainstream“-Parteien und deren „Gelaber und Gezänk“.
Mit allen ins Gespräch kommen
Für die AfD hat er die Landtagsabgeordneten Birgit Bessin und Wilko Möller eingeladen. Dass letzterer, von Beruf Bundespolizist, im Wahlkampf von sich reden machte mit einem Plakat, aus dem manche einen Hitlergruß herauslesen, stört Gehlsen nicht: „Da bin ich Pragmatiker, Wilko Möller lebt als Bürger in dieser Stadt, und ich will mit allen Bürgern ins Gespräch kommen, ob ich die leiden kann oder nicht.“
In Frankfurt steht die AfD bei 30 Prozent. „Sowohl die Landtagskandidaten von SPD Matthias Steinfurth und von CDU Michael Möckel sind aktive Gemeindeglieder“, sagt Schürer-Behrmann, es gebe in der Stadt bereits eine gute Gesprächskultur. Man tue all den Engagierten in Kirche und Zivilgesellschaft Unrecht, wenn man das nicht anerkenne und sich „losgelöst und medienwirksam als der große Versöhner positioniert“. Zumal auch in den Gemeinden Kontakte zu den AfD-Kandidaten beständen – „aber ohne Anbiederei“.
Vier Gaststätten sagten ab
Mit seiner Skepsis ist er nicht allein, das öffentliche Gespräch im Restaurant Seeterrassen im Ortsteil Güldendorf brauchte mehrere Anläufe. Vier Gaststätten hatten abgesagt, als sie hörten, dass auch AfD-Leute dabei sind. „Sie haben Angst“, vermutet Sven Hornauf. Der Rechtsanwalt kandidiert für das BSW. Ihn begleitet Reinhart Zarneckow, „erstes Mitglied in Brandenburg“ – im ganzen Bundesland sind es rund 40, die bislang das BSW-Bewerbungsverfahren, um Parteimitglied zu werden, erfolgreich durchlaufen haben. Zarneckow, der nicht antritt, war 40 Jahre Sozialdemokrat, aber im Dezember reichte es ihm. Die „Kriegstüchtigkeit“ von Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) hat ihn vertrieben.
Bei zwei Fragen herrscht im Saal große Einigkeit: Frieden! Mit Ausrufezeichen. Und: Die „Brandmauer“ muss weg. Hornauf will „je nach Sachfragen“ entscheiden, auch bei AfD-Anträgen. Eine Koalition schließt er, anders als Zarneckow und BSW-Landesvorsitzender Robert Crumbach, nicht aus, hält sie aber im Moment für unwahrscheinlich – zu groß seien die Differenzen in der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Und weil es ihnen um Sachfragen geht, stellen sich die BSWler dem direkten Vergleich mit den Rechtsextremen – ein Begriff übrigens, der kein einziges Mal fällt – und lassen sich umwerben.
Inhaltliche Übereinstimmungen
Im Publikum wäre man für eine Koalition der beiden Außenseiter, „wo es doch so viele Schnittstellen gibt“ und „links und rechts“ keine Bedeutung mehr hätten. Die Stimmung ist friedlich. „Das C-Thema“, wie Moderatorin Katrin Stoll-Hellert die andauernde Debatte um Corona und die Folgen launig nennt, wird erstaunlich rasch abgeräumt – auch hier kein Dissens: strikte Aufarbeitung und vollständige Wiederherstellung der Bürgerrechte.
Beim Thema Migration stimmt man ebenfalls überein – weniger reinlassen, mehr abschieben, besser integrieren – weicht aber in Stilfragen voneinander ab. Möller von der AfD sagt: „Da kommen keine Fachkräfte, da kommen Transferleistungsempfänger.“ Hornauf vom BSW sagt: „Das Asylrecht muss bestehen bleiben, aber das Staatsversagen muss aufhören.“ Ineffiziente Zuständigkeiten und Defizite im Verwaltungsvollzug, auch bei der Integration, kritisiert er scharf. Außerdem müsse die Bundesregierung „bestimmte Regierungen“ wie Syrien anerkennen, um auch dorthin abschieben zu können. Den öffentlich-rechtlichen Rundfunk wollen beide grundsätzlich reformieren.
Brandmauer gegen das Schwafeln
Es geht auch um Themen, für die der Landtag gar nicht zuständig ist, wie die Stationierung von US-Mittelstreckenraketen oder Waffenlieferungen in Kriegsgebiete. Christian Gehlsen sitzt derweil in der Mitte, bequem zwischen allen Stühlen und lächelt gütig, ein bisschen wie ein Engel, mit seinen langen weißen Haaren unter der bunt gehäkelten Mütze, im knielangen weißen Kleidhemd. „Keine Gewalt“, steht darauf, und „Alle Menschen sind Gottes Kinder“. Birgit Bessin von der AfD schmeichelt er mit „schöne Frau“, auch Moderatorin „Kati“ ist vor seinen Altmänner-Komplimenten nicht sicher. Stoll-Hellert steht drüber, regiert mit erfrischend eiserner Hand und klaren Regeln: Ausreden lassen, kurz fassen, Phrasen verboten. Hier, gegenüber der Freiwilligen Feuerwehr Güldendorf und der Kirchengemeinde Frankfurt (Oder)-Lebus, steht zumindest die Brandmauer gegen das Schwafeln. Und mittendrin an den Biertischen, besorgte Bürger und Bürgerinnen, die nicht gendern, Durchschnittsalter 65.
Ist die Kirche zu staatsnah?
Einer gibt sich als BSW-Fan zu erkennen, es sprudelt nur so aus ihm heraus: Er sei in der Coronazeit „völlig ausgegrenzt worden“, habe „unglaublich gelitten“, weil er sich nicht impfen lassen wollte, durfte nicht mal in den Gottesdienst. Er sei evangelisch und von der Kirche „nach der Wende „überhaupt nicht mehr überzeugt – „zu staatsnah“.
„Wie wollen Sie auf Landesebene die Demokratie fördern?“, fragt eine Bürgerin. Möller würde Programme wie „Demokratie leben“ ersatzlos streichen und den Bundeskanzler direkt wählen. Bessin will „die Politiker dazu zwingen, dass sie zum Volk gehen müssen“. Hornauf spricht von „zu engen Fristen“ und „Partizipation“. Es dürfe außer dem Grundgesetz keine „Sachbegrenzungen“ für Mitbestimmung geben.
Besorgt um den Frieden
Wenn es zu kleinteilig wird, scharren die Zuhörenden mit den Füßen. Einer wettert gegen die „Grüne Sekte“. Aber das Gros der Zuhörenden wirkt ehrlich interessiert – und ehrlich besorgt um Frieden und das Verhältnis zu Russland. „Wie wollen Sie sich einsetzen für Frieden zum Wohle unserer Bevölkerung und unserer Nachbarn?“, fragt eine ältere Frau.
Gegen die Russland-Sanktionen könnte man gemeinsame Sache machen, antwortet Hornauf, und wie Möller halte er es für einen „furchtbaren Fehler, dass die Städtepartnerschaft mit dem belorussischen Wizebsk auf Eis gelegt wurde“.
Am Ende ist Gehlsen zufrieden: „Wir haben richtig gut gesprochen und gut zugehört.“ Weil er als Pfarrer Beten und Singen gelernt hat, Beten aber „vielleicht nicht euer Ding“ ist, schlägt er vor, zum Abschluss das Jungpionierlied „Kleine Weiße Friedenstaube“ zu singen. Und so geschieht es: „… kleine weiße Friedenstaube komm’ recht bald zurück“. Großer Applaus. Gehlsens Schlusswort: „Friede sei mit euch!“
Katharina Körting ist im Jahr 2024 Arbeitsstipendiatin für deutschsprachige Literatur der Berliner Senatsverwaltung für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt.