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„Das syrische Volk gibt es nicht“

Nahostexperte Michael Lüders äußerte sich als Gastreferent zu gesellschaftlichen Strukturen, Ursachen und Hintergründen des Kriegsgeschehens, seine Folgen und dem oft fehlenden differenzierten Blick auf die Ereignisse in Nordafrika und dem Nahen Osten

Seit sechs Jahren erreichen uns Nachrichten vom Krieg in Syrien. Für Politik-, Islamwissenschaftler und Journalist Michael Lüders reichen die Ursachen für den Syrienkonflikt bis in die vierziger und fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts zurück. Rund 100 Teilnehmende folgten auf der gemeinsamen Veranstaltung „,Die den Sturm ernten…‘ – Zur Rolle des Westens in der Vorgeschichte des Syrienkrieges“ von Evangelischer Akademie Villigst und MÖWe, dem Amt für Mission, Ökumene und kirchliche Weltverantwortung, seinen Ausführungen.
Ein Nebeneinander von indus­trieller Entwicklung und Urbanisierung einerseits und feudalstaatlichen Elementen andererseits charakterisiert nach Lüders‘ Worten die syrische Gesellschaft. Der Staatshaushalt entspreche der Privatschatulle der Herrschergruppen. Kollektive Identitäten – Großfamilien, Clans oder weitere Gruppierungen – bestimmten die Gesellschaft. Der oder die Einzelne könne sich nicht von den Normen dieser Gemeinschaften emanzipieren. Fielen Staaten auseinander, bekomme die Gruppenorientierung einen noch höheren Stellenwert.
Die gesellschaftliche Struktur Syriens verglich der Nahostexperte mit einer Pyramide. Drei bis fünf Prozent der Bevölkerung stellten die Macht­elite dar. Außer in Polizei und Militär investiere sie wenig in die Infrastruktur des Landes oder in Bildung.
Die Mittelschicht, knapp 50 Prozent, sei vom sozialen Abstieg bedroht. Die Muslimbruderschaft hilft mit sozialer Wohltätigkeit und gesundheitlicher Versorgung.
Der überwiegende Teil der Bevölkerung lebt den Informationen zufolge in prekären Verhältnissen, ist perspektivlos und besitzt nur mangelhafte Bildung. Entsprechend attraktiv sei es für diese Gruppe, sich denen anzuschließen, die unter anderem durch regelmäßige Lebensmittellieferungen die Ernährung der Familie sicherstellen – wie der IS („Islamische Staat“) es tue.
Die Situation in Syrien hat vielfache Ursachen. Ausschließlich die Religionszugehörigkeit als Begründung zu nennen, führt in die Irre, wie Lüders verdeutlichte. Genauso wenig macht es Sinn, die islamische Religion mit dem IS gleichzusetzen. „Das wäre in etwa dasselbe, als wenn der Ku-Klux-Klan stellvertretend für den christlichen Glauben stünde“, so Michael Lüders.
Den Hauptgrund für das Scheitern des sogenannten „arabischen Frühlings“ sieht Michael Lüders in der zu wenig ausgeprägten Mittelschicht. Sie konnte nicht die starke, treibende Kraft darstellen, die gesellschaftliche Veränderungen brauchen.
„Alles ist in der Region miteinander verbunden“, betonte er. Der Vormarsch des IS sei das Ergebnis des Irak­krieges und seinen Folgen. Der IS wiederum bestehe weitgehend aus den ehemaligen Kadern von Saddam Hussein, dem gestürzten irakischen Diktator. Andererseits führte der Krieg in Syrien zur Eskalation der Gewalt im Irak: Die schiitische Bevölkerungsmehrheit im Irak (etwa 60 Prozent) befürchtete die Machtübernahme von Sunniten in Syrien. Die Sunniten im Irak (30 Prozent) dagegen hätten den Regimewechsel in Damaskus zugunsten der Sunniten begrüßt.
Zu Kriegsbeginn 2011 erhob sich im Unterschied zu Tunesien nicht die gesamte Bevölkerung Syriens, stellte Lüders rückblickend fest. Bereits Ende 2011 waren die Proteste in Syrien überlagert vom Konflikt im Irak. Bis zu tausend unterschiedliche Gruppierungen agieren im Konflikt in Syrien, eine unübersehbare Situation.
Inzwischen ist der Krieg ein Stellvertreterkrieg. Die USA und die Europäer zielen darauf ab, das Regime als Verbündeten Russlands zu stürzen. Allerdings stehen noch immer 40 bis 50 Prozent der syrischen Bevölkerung hinter Assad.
In vom IS befreiten Gebieten entsteht ein Machtvakuum, wie Lüders erläuterte. Die USA und Europa möchten dieses nicht von Assad-Regierungsgruppen gefüllt sehen. Die Allianzen der Opposition auf der anderen Seite aber seien brüchig. Milizen und Banden verursachten Chaos. Lüders: „Das syrische Volk gibt es nicht.“
Die Kehrseite des ungelösten Konflikts und der humanitären Katas­trophe ist die Flüchtlingsbewegung. Sie zielt nach seiner Analyse auf die Nachbarländer Jordanien, den Libanon, die Türkei und – zu einem kleineren Teil – auf Europa. Perspektivlose Jugendliche seien da leicht für Terrorakte zu gewinnen.
Das oftmals beschriebene Schema von Gut und Böse, so Michael Lüders, entspreche vor diesem Hintergrund nicht der Realität. Der Journalist kritisierte den vielfach fehlenden differenzierten Blick auf die Ereignisse in Syrien, Irak, Saudi-Arabien oder Nordafrika.