Es hat Zeiten gegeben, da war schon der Gang zum Briefkasten für Ursula S. mit Angst besetzt. „Ich habe die Post rausgeholt und aufgemacht. Und besonders mit den Briefen von Behörden kam ich nicht zugange, ich habe nächtelang schlecht geschlafen“, erinnert sich die 81-jährige Bremerin. „Ich hatte immer Angst, ich mache etwas verkehrt.“ Bis Maritta Zehnich-Rautmann in ihr Leben kam. Die ehemalige Berufsschullehrerin engagiert sich als ehrenamtliche Organisationsassistentin und unterstützt Ursula S. vor allem bei Behördensachen. „Wir sind seit neun Monaten ein Tandem“, sagt sie und betont: „Das läuft prima.“
Im vergangenen Jahr ist der Mann von Ursula S. gestorben, nach 33 Jahren Ehe. „Für mich brach eine Welt zusammen, ich musste erstmal lernen, alleine zu sein. Das ist mir sehr schwergefallen – und fällt mir noch schwer. Ich vermisse ihn sehr“, sagt sie. Und ergänzt: „Mein Mann hat sich um den Papierkram gekümmert und um das Geld – bis er nicht mehr konnte.“
Beim Tod eines Angehörigen ist viel Schriftliches zu erledigen
Gerade beim Tod eines Angehörigen ist viel Schriftliches zu erledigen. Die Post stapelt sich, da kann der Überblick leicht verloren gehen. In dieser Situation kam ein Kontakt zum Bremer Modellprojekt “Organisationsassistenz” zustande, das die Caritas und die Arbeiterwohlfahrt gemeinsam ins Leben gerufen haben, konzeptionell begleitet vom Bremer Verein „Selbstbestimmt leben“.
„Die Organisationsassistenz unterstützt Menschen, die aufgrund körperlicher, geistiger oder seelischer Beeinträchtigungen Unterstützung bei bürokratischen Angelegenheiten benötigen“, erläutert Caritas-Koordinatorin Gabriele Kleine-Kuhlmann und ergänzt: „Die Assistenz soll dazu ermutigen, auch in schwierigen Zeiten die Verantwortung für bürokratische Angelegenheiten nicht an gesetzliche Betreuer abzugeben.“ Das sei angesichts des dichten Behördendschungels umso wichtiger.
Barrierefreiheit bedeutet auch, analoge Zugänge beizubehalten
Das passt für Maritta Zehnich-Rautmann. Für die 72-Jährige gehörte der Umgang mit behördlichen Angelegenheiten lange Zeit zum beruflichen Alltag. „Ich kann gut organisieren und habe mit Ursula S. zuerst die Aktenlage gesichtet.“ Dabei ging es um Rechnungen, Rentenformulare, Miet- und Konto-Angelegenheiten, Versicherungen. „Was uns oft große Schwierigkeiten macht, ist, dass meine Tandem-Partnerin kein Internet hat, keine E-Mail-Adresse, kein Handy, keinen Computer“, sagt Maritta Zehnich-Rautmann. Und Gabriele Kleine-Kuhlmann bestätigt: „Alle reden von Barrierefreiheit. Aber Behörden und andere Stellen wie Krankenkassen machen zunehmend analoge Türen zu.“
Bremer Modellprojekt “Organisationsassistenz” arbeitet im fünften Jahr
Das Bremer Modellprojekt arbeitet bereits im fünften Jahr, jährlich gibt es mehr als 60 Tandems. „Die jüngste Person mit einer Assistenz ist Mitte 30, die älteste, die noch selbstständig wohnt, ist im 101. Lebensjahr“, berichtet Gabriele Kleine-Kuhlmann.
Zur Gründung beigetragen hat eine geänderte rechtliche Grundlage, nach der zunächst geprüft werden muss, ob es nicht eine niedrigschwellige Möglichkeit der Assistenz gibt, bevor für eine Person eine gesetzliche Betreuung eingerichtet wird. „Für uns steht die Wahrung der sozialen Rechte derjenigen, die die Assistenz bekommen, im Mittelpunkt“, betont Wilhelm Winkelmeier vom Konzeptpartner „Selbstbestimmt leben“. „Und auch die Ehrenamtlichkeit als besondere Qualität der Zusammenarbeit ist positiv.“
Sieh dir diesen Beitrag auf Instagram an
Damit aber überhaupt ein Tandem zustande kommt, gibt es zwei Voraussetzungen, erklärt Koordinatorin Ursula Rolfes von der Arbeiterwohlfahrt. „Die Bereitschaft, Assistenz anzunehmen, ist natürlich grundlegend. Und die Person, die Unterstützung bekommt, muss zur Zusammenarbeit in der Lage sein. Wer Assistenz erhält, muss weiterhin verantwortlich seine Entscheidungen treffen. Da gibt es eine klare Grenze zur rechtlichen Betreuung.“
Viele der Nutzerinnen und Nutzer des Projektes sind alleinstehend
Zentral sei ein wertschätzender Umgang miteinander, ergänzt Gabriele Kleine-Kuhlmann: „Jeder Mensch hat seinen eigenen Rhythmus, es kommt darauf an, die jeweilige Lebenssituation zu beachten.“ Da seien auch Toleranz und Geduld gefragt, die im familiären Umfeld manchmal fehlten. „Außerdem sind viele der Nutzerinnen und Nutzer in unserem Projekt alleinstehend.“ Kontakte zum Projekt entstünden dann oft über Sozialbehörden, Reha-Kliniken, Nachbarn, Vereine oder Begegnungsstätten. „Wenige melden sich selbst.“
In der ersten Zeit haben sich Ursula S. und Maritta Zehnich-Rautmann wöchentlich getroffen. „Jetzt hat sich das auf einen zweiwöchentlichen Rhythmus eingependelt“, sagt die ehrenamtliche Assistentin, die oft in die Wohnung ihrer Tandem-Partnerin kommt. Manchmal reicht aber auch ein Telefongespräch. „Ich bin froh, dass ich die Hilfe bekommen habe“, sagt Ursula S. Ihr Umgang mit dem Papierkram sei „peu à peu“ besser geworden, sagt sie: „Wenn Post kommt, die ich nicht kenne, werde ich noch immer unruhig. Aber insgesamt fühle ich mich deutlich sicherer.“
Info: Wer Interesse an einer ehrenamtlichen Mitarbeit hat, kann sich an die Koordinatorinnen Gabriele Kleine-Kuhlmann (0421/8779-188, mobil 0162/1081639, g.kleine-kuhlmann@caritas-bremen.de) und Ursula Rolfes (0176/55210945, organisationsassistenz@awo-bremen.de) wenden.
Internet: Projektinformationen auf der Bremer Caritas-Website