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Brandenburg an der Havel mit breiter demokratischer Brust

Deutschland geht auf die Straße für die Demokratie. Ein nie dagewesenes Bündnis von Antifa bis CDU skandiert gemeinsam antifaschistische Parolen. Auch in der Mittelstadt Brandenburg an der Havel.

Idyllischer Wasserblick in Brandenburg
Idyllischer Wasserblick in BrandenburgImago /Zoonar

Nicht nur in Großstädten wird aktuell gegen Rechtsextremismus und für Demokratie demonstriert. Auch in Klein- und Mittelstädten formiert sich Widerstand. Am Beispiel von Brandenburg an der Havel zeigt sich, wie eine Stadtgesellschaft in unruhigen Zeiten unter ihrer Vergangenheit leidet und zugleich mutig voranschreitet.

Nach den üblichen Nach-„Wende“-Verwerfungen prosperiert die einstige Industriemetropole Brandenburg an der Havel heute wieder. Das Riva-Elektrostahlwerk produziert mit rund 1.000 Beschäftigten jährlich zwei Millionen Stahl, der Technologiekonzern ZF Friedrichshafen bietet über 1.200 Arbeitsplätze, und die Heidelberger Druckmaschinen AG hat rund 600 Beschäftigte. Im Ortsteil Kirchmöser befindet sich mit der DB Systemtechnik ein führender Eisenbahntechnologiestandort, und seit 2021 hat auch das Bundesamt für Auswärtige Angelegenheiten mit über 600 Mitarbeitern seinen Hauptsitz in der Stadt.

AfD macht sich breit

Brandenburg ist eine exemplarische deutsche Mittelstadt mit gut 73.000 Einwohnern, Tendenz steigend, drittgrößte des Bundeslandes, auf dem Weg in die Gentrifizierung. Vielleicht kostet der belegte Bagel deshalb fast zwei Euro mehr als in Berlin-Mitte. Die Mieten steigen. Berliner, die am heimatlichen Wohnungsmarkt scheitern oder ihren Kindern mehr bieten wollen als verstopfte U-Bahnen und Straßen, entern das „Venedig an der Havel“, finden tolle alte Häuser, schick sanierte Straßen, Gotik, Wasser, Natur. Wenn nicht gerade Streik ist, liegt dieses Paradies nur gut 50 Bahnminuten vom Hauptstadtzentrum entfernt. Einziger Wermutstropfen: die AfD. Auch in dieser Kommune hat sie sich breitgemacht, sozusagen als Erbin der üblen „Baseballschlägerjahre“ der 1990er Jahre.

Gedenktafel für Sven Beuter in Brandenburg
Gedenktafel für Sven Beuter in BrandenburgKatharina Körting

In der Havelstraße 13 findet man ein trauriges Zeugnis, von dem wohl viele Passanten nichts wissen: Eine unscheinbare Gedenkplatte erinnert an den dort im Februar 1996 von einem Neonazi zu Tode getretenen Sven Beuter. „Er war ein schmächtiger kleiner Punk mit einem grünen Iro“, erzählt Daniel Herzog von der Gedenkinitiative, „sein Mörder wohnt hier in der Stadt.“ Er verbrachte wegen Totschlags mehrere Jahre im Gefängnis.

Dass es dazu kommen konnte, sei auch dem gesellschaftlichen Klima geschuldet, meint Herzog: „Wir alle haben die verdammte Pflicht, rechte Hetze zurückzuweisen und die Demokratie zu verteidigen.“

„Die Brandmauer hat längst große Risse, sofern sie überhaupt vorhanden ist“

Zwar verstünden sich die Grünen mittlerweile „sehr gut mit den Linken“, sagt Martina Marx, Ko-Fraktionsvorsitzende in der Stadtverordnetenversammlung (SVV). Für das Gespräch sitzt sie im Parteiladen in der Ritterstraße und bietet Tee an. Beide Parteien haben je sechs Stadtverordnete, die CDU ist mit doppelt so vielen stärkste Fraktion. Aber die mache gemeinsame Sache mit den Freien Wählern (FW, 5 Sitze). Bei der CDU seien nach dem Mauerfall auch SED-Kader, Vopo- und Stasileute untergekrochen, später kamen zwei weitere einem Rauswurf bei der SPD zuvor und schlossen sich, anfangs parteilos, den FW an. Diese seien „das Scharnier“ zur AfD (7 Sitze): der Noteingang durch die Brandmauer hin zu denen, die man immer nur dann brandgefährlich findet, wenn man sie gerade nicht braucht.

In der SVV „klopfen sie sich gegenseitig auf die Schulter und liegen sich freudestrahlend in den Armen, wenn sie es den Grünen und Linken mal wieder so richtig gezeigt haben“, erzählt Marx. Die „alte Diktatur“ verbrüdere sich „mit denen, die eine neue vorhaben, und die CDU johlt auf der Hinterbank Beifall“, das finde sie beängstigend. „Die Brandmauer hat längst große Risse, sofern sie überhaupt vorhanden ist“, bestätigt Robert Schönnagel (Stadtverordneter der Grünen). So habe die SVV „die national-völkische AfD ins Präsidium gewählt“, obwohl es eine grüne Gegenkandidatin gab. Man kenne das ja, „den anderen niedermachen, einfach, weil man es kann und weil man die Mehrheit hat“, sagt Marx, es sei „widerlich“.

Antjüdische Schmähplastik am Domstift

Am 27. Januar, zum Holocaust-Gedenktag erinnerte man im Dom, wo eine mittelalterliche antijüdische Schmähplastik die traditionelle christliche Judenfeindschaft zeigt, an die christliche Widerstandskämpferin Hildegard Jacoby. „Natürlich sehen wir uns in der Pflicht, uns in besonderer Weise gegen Rechtsextremisten zu engagieren, auch abgesehen von Schmährelief und traditionellem Antijudaismus“, sagt Marianne Schröter, Vorständin im Domstift.

Und es gab eine „Demonstration für Demokratie und Toleranz“ am 27. Januar, Motto: „Branne bleibt bunt“. Angemeldet hatte sie die Linken-Stadtverordnete Claudia Sprengel, nachdem sich ein kleiner Kreis rund um Mathieu-Pascal Rudolph von der Naturfreundejugend und Jannis Buder vom Jugendforum in einer Chatgruppe vernetzt hatten. Letzterer stellt die Toleranz des Stadtbürgertums hart auf die Probe, indem er heftig gegen die Ampel austeilt. Im Vorfeld, hört man, gab es Gerangel um die Rednerliste. CDU-Oberbürgermeister Steffen Scheller wollte auch. Und konnte nur mit Mühe davon abgehalten werden, ohne dass andere Bürgerliche absprangen.

Extreme mit bürgerlichem Anstrich

„Wir wollten keine Politiker auf der Bühne, sondern die Zivilgesellschaft repräsentieren“, erklärt Sprengel, „um eine möglichst große Identifikation zu möglichst vielen Bevölkerungsgruppen zu erreichen.“ Deshalb sprachen auf dem Nicolaiplatz Leute wie der gebürtige Kameruner Eric Noël Mbiakeu vom Bündnis Open Dreams Brandenburg – „Alerta, alerta, antifascista!“ –, Silvia de Pasquale von der in Sichtweite befindlichen Gedenkstätte für die Opfer der Euthanasiemorde oder Philipp Mosch, Pfarrer der St. Gotthardtkirche. „Die Demokratie ist durch Rechtsextremismus in Gefahr“, sagt er. Auch wenn die Stadt kein „Brennpunkt“ sei – Pegida-Ableger konnten hier nie Fuß fassen. Doch der AfD sei es gelungen, „sich einen bürgerlichen Anstrich zu geben“. In der Corona-Zeit hatte er auch schon mal einen zerstochenen Reifen oder einen Fisch im Briefkasten. Nun werde die Radikalisierung immer deutlicher.

Zwei Tage vor der Demo hatte die AfD-Fraktion den Bundestagsabgeordneten Hannes Gnauck eingeladen. Der Oberfeldwebel aus der Uckermark ist Bundesvorsitzender der „Jungen Alternative“ und wegen fehlender Verfassungstreue freigestellt, er darf weder Uniform tragen noch ohne Aufforderung eine Kaserne betreten. Eine bunte Gruppe protestierte vor den AfD-Räumen. Auch mit dem amtierenden Kreiskitabeiratsvorsitzenden hadern viele: Michel Albrecht, neuer AfD-Kreisvorsitzender, hatte einen gewaltvollen Internet-Kommentar gegen Klimakleber für gut befunden, „sowas gehört unter den Trecker als Dünger“, hieß es darin. Birgit Patz (Linke) und Klaus Hoffmann (Grüne) fordern seinen Rücktritt, um sich dem AfD-„Marsch durch die Institutionen entgegenzustellen“, wie Schönnagel es ausdrückt. „Allerdings sind wir auch selbst schuld“, räumt Marx ein, „keiner wollte es machen.“

 

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Der rechtsradikale Rand ist „seit Jahr und Tag aktiv in Vereinen und Verbänden, lokal oder regional bekannt und vernetzt“, erklärte jüngst Sozialwissenschaftler Steffen Mau im Interview mit der Süddeutschen Zeitung, „Dämonisierung“ lasse sich im Alltag schwer durchhalten. Das bestätigen alle Gesprächspartner in der Havelstadt – schließlich seien auch private, mitunter familiäre Kontakte unvermeidbar. Menschen können nett sein und, insbesondere im Internet, das Gesprächsklima vergiften und so zur grassierenden Engagementmüdigkeit beitragen.

Brandenburg nicht den Rechten überlassen

Die 2019 von der Stadt eingerichtete Koordinierungsgruppe für Demokratie und Toleranz war bis zu dieser Demo nicht aktiv. Jetzt sei das Aktionsbündnis „wiederbelebt“, sagt die Pfarrerin im Ruhestand Cornelia Radeke-Engst, die auf der Demo moderiert und diese als „Auftakt für die politische Arbeit“ bezeichnet. „Das sind Wölfe im Schafspelz“, meint Mosch, „die immer mehr und mehr ihr wahres Gesicht zeigen.“ Doch je weiter rechtsextreme Positionen und Personen vordringen in den politisch-sozialen Denk-, Sag- und Machbarkeitsraum, desto schwieriger wird der Widerstand – und die Unterscheidung. Erschwerend kommt hinzu, dass sich Die Linke auch in Brandenburg schwertut. „Da gibt es ernsthafte Probleme, genügend Kandierende für die Kommunalwahl zu finden“, sagt Marx, weil die Hälfte ausgetreten sei, nämlich der gesamte Ortsverband vom Dom, „und das bedaure ich zutiefst“. Gute Kollegen seien das, engagierte Menschen.

Auf der Demo setzt Mbiakeu an zu skandieren: „Ganz Brandenburg hasst die AfD!“, es holperte ein wenig im Takt, und nur wenige schließen sich an. „Danke für die klare Position“, rettet Radeke-Engst die Situation, „aber auch dem Hass müssen wir entgegentreten, und zwar alle gemeinsam.“ Und erhält neben einigen Pfiffen viel Applaus von den laut Polizei rund 600 Teilnehmenden. Man sieht viele Familien, Alte und Junge. Sie alle wollen ihre Stadt mit der über 1000-jährigen Geschichte auf keinen Fall antidemokratischen Anhängern neuer 1000-jähriger Reiche überlassen.