Nach dem russischen Überfall auf die Ukraine vor zwei Jahren sind auch Mitglieder der streng orthodoxen Chabad-Bewegung geflohen. Rund 300 wurden in einem Berliner Hotel aufgenommen. Sie haben Höhen und Tiefen erlebt.
Für Rabbi Elisha Pavlotskyi ist es ein Wunder: Einen Platz zum Wohnen, zum Schlafen, zum Essen zu haben. Aber vor allem die Sicherheit, hier nicht zu sterben, sagt er. Das Wort Wunder, er benutzt es immer wieder. Der Rabbiner steht in einem kleinen Saal, der aus allen Nähten platzt, und spricht zu einer großen Gruppe Ukrainerinnen und Ukrainern, die eng nebeneinander in gut zehn Stuhlreihen sitzen. Die meisten der anwesenden Männer tragen Kippa, kleine Mädchen in Röcken und Kleidern wuseln herum.
Rund 300 Geflüchtete leben seit dem russischen Überfall auf die Ukraine hier: in dem laut der streng orthodoxen Chabad-Bewegung einzigen jüdischen Flüchtlingsheim in Deutschland.
Wer vor dem unscheinbaren ehemaligen Hotel in Berlin steht, käme nicht auf die Idee, dass sich hinter den Türen ein Flüchtlingsheim verbirgt. Dass es hier nun eine koschere Küche gibt und in jedem Zimmer eine Familie untergebracht ist. Wären da nicht die Luftballons in gelb und blau hinter den verglasten Eingangstüren. Und die zwei Polizisten, die den Plattenbau rund um die Uhr bewachen – wie so oft an Orten, an denen es jüdisches Leben gibt.
Koordiniert hat die Rettungsaktion unter anderem Rabbi Elisha. Seine südostukrainische Heimatstadt Dnipro trafen die ersten russischen Raketen schon Anfang März 2022; schlugen dort auch in der Nähe ziviler Ziele ein. Hunderte Chabad-Gemeindemitglieder seien an der Evakuierung beteiligt gewesen, so der Rabbi. So dass der damals 40-Jährige wenig später mitsamt seiner eigenen Familie und einer großen Gruppe von Müttern und Kindern aus ukrainischen Chabad-Gemeinden in einem Bus nach Deutschland saß.
Seitdem haben die ukrainischen Gemeindemitglieder viel durchlebt hier in Berlin, und daran wollen sie heute erinnern. Auf einem Fernseher wird ein Filmchen mit Höhepunkten des Gemeindelebens gezeigt: Das gemeinsame Begehen jüdischer Feiertage wie Pessach und Purim, Werk- und Basteltage, Jugendfahrten nach Budapest und Wien. Zu sehen sind lachende Kinder bei Ausfahrten ins Grüne, ein Teenie bläst eine riesige Seifenblase. Bilder einer lebendigen, fröhlichen Gemeinde, einer heilen Welt.
Es ist nur ein Teil ihrer Wirklichkeit. Zu dieser gehört ebenso die reale Gefahr durch Antisemitismus: Seit am 7. Oktober 2023 die islamistische Terrororganisation Hamas in Israel ein beispielloses Massaker anrichtete, über 200 Menschen in Geiselhaft nahm und mehr als 1.200 tötete, wuchs für Jüdinnen und Juden in aller Welt die Gefahr antisemitischer Überfälle.
Unter den mittlerweile fast 500 Ukrainerinnen und Ukrainern der Chabad-Bewegung, die nach Deutschland kamen, sind auch die 14-jährige Yaroslava mit ihrer Mutter und ihrer Schwester; ebenfalls aus Dnipro. Als sie flohen, mussten sie den Vater und Ehemann zurücklassen, der als unter 60-Jähriger als Soldat in den Krieg musste. Vorerst kamen sie in ein baden-württembergisches Dorf, nur sie drei, das sei sehr schwer gewesen. Bis sie von Rabbi Elisha zu ihrer Gemeinde nach Berlin geholt wurden.
Yaroslava besucht hier eine jüdische Oberschule, hat Deutsch gelernt. Zu ihrer Freude ist sie seit kurzem Mitglied eines Berliner Fechtvereins. Das Fechten hat sie schon vor einigen Jahren in der Ukraine begonnen, es ist ihr eine gute Ablenkung. Auch ihre Beteiligung am Kinderprogramm im Heim macht ihr Spaß, dort malt, bastelt und betet sie mit den 4- bis 11-Jährigen aus der Community.
Wenn sie ihr Leben beschreibt, benutzt sie dennoch häufig das Wort “schwer”. Erst am Morgen haben Yaroslava und ihre Mutter erfahren, dass in Dnipro in der Nacht erneut ein Wohnhaus bombardiert wurde. Jeder Morgen beginnt für sie mit dem Kontakt mit ihrer Familie im gemeinsamen Whatsapp-Chat, unter anderem mit Yaroslavas Großeltern, ihrer Tante und Cousine, die noch vor Ort sind. Wie geht es ihnen? Sind sie in Sicherheit? Eine Cousine ist aus Moskau nach Israel geflohen, auch um sie sorgen sie sich.
Doch das Leben geht weiter: Yaroslava findet es cool, in der Schule viel zu lernen; ihr Lieblingsfach ist Mathe. Sie träumt davon, die Schule hier in Deutschland zu beenden und später an der Uni zu studieren. Trotzdem betet sie jeden Abend, dass der Krieg bald endet und sie ihre Familie wiedersehen kann.