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Behrens zur Flüchtlingsunterbringung: Zelte statt Obdachlosigkeit

In Hildesheim soll am Montag (27. November) eine weitere Notunterkunft des Landes für Geflüchtete in Betrieb gehen. Sie sollen dort in Zelten unterkommen. Das sei nicht die Wunschvorstellung, aber angesichts des starken Zuzugs unumgänglich, sagte Innenministerin Daniela Behrens (SPD) in einem Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd). Sie wies zudem die Kritik zurück, die Politik habe die eher ablehnende Stimmung in der Bevölkerung gegenüber Geflüchteten selbst mit angeheizt, in dem sie von illegaler Migration spreche und die Probleme überbetone.

epd: Frau Behrens, müssen immer mehr Geflüchtete in den Erstaufnahmeeinrichtungen des Landes in Zelten überwintern?

Daniela Behrens: Aktuell werden fünf winterfeste Zelte, zwei in Braunschweig und je eins in Osnabrück, Bramsche und Friedland genutzt. Weitere Zelte werden derzeit in einer Notunterkunft in Hildesheim aufgebaut. Die regulären Standorte der Landesaufnahmebehörde sind derzeit zu 90 Prozent ausgelastet, die Not- und Behelfsunterkünfte zu 64 Prozent. Wir sind einfach sehr, sehr stark ausgelastet. Aber unsere Zelte sind winterfest, ordentlich beheizt und gut ausgestattet. Das ist nicht die Wunschvorstellung der Unterbringung. Aber die Alternative wäre Obdachlosigkeit.

epd: Was sagen Sie zu der Kritik, das Aufstellen der Zelte deute auf Versäumnisse hin? Die Landesregierung habe aus der Flüchtlingskrise von 2015/16, als erstmals Zelte aufgebaut wurden, keine Lehren gezogen.

Behrens: Das kann ich nicht nachvollziehen. Seit 2015/16 haben alle Bundesländer ihre Aufnahmeeinrichtungen weiterentwickelt. Aber derzeit kommen zum einen sehr viele Flüchtlinge über die Ost- und die Balkanroute. Zum anderen haben wir auch in diesem Jahr zusätzlich zu den 25.000 aus aller Welt geflüchteten Menschen viele ukrainische Flüchtlinge aufgenommen. Angesichts dieser Lage kommen wir um das Thema Zelte nicht herum, vor allem wenn die Menschen so geballt kommen. Bis vor 14 Tagen hatten wir wöchentlich mehr als 1.200 Neuzugänge. Jetzt scheinen es weniger zu werden. In dieser Woche zeichnet es sich ab, dass wir etwa 700 aufnehmen.

epd: Sie wollen die Zahl der Plätze in Erstaufnahmeeinrichtungen im kommenden Jahr auf 20.000 erhöhen. Sind Sie zuversichtlich, dass Sie das auch vor dem Hintergrund der an vielen Orten aufkeimenden Proteste wie in Fürstenau oder Bad Bodenteich dennoch schaffen?

Behrens: Ich bin zuversichtlich, aber bis dahin ist noch ein Stückchen zu gehen. Ein erheblicher Teil der Plätze, nämlich bis zu 6.000, sollen nach und nach wieder in Hannover in den Messehallen zur Verfügung stehen. Weitere Notunterkünfte werden folgen.
Problematisch bleibt aber der Aufbau von regulären Einrichtungen. Die Menschen machen sich in der Tat Sorgen. Wir versuchen, die Ängste durch ausführliche Informationsveranstaltungen zu zerstreuen. Wir versuchen, ihnen deutlich zu machen, dass die Angst vor erhöhter Kriminalität in der Nähe der Einrichtungen überzogen ist. Das sind keine einfachen Debatten, aber wir müssen sie führen, denn wir haben die rechtliche und humanitäre Verpflichtung, die Geflüchteten unterzubringen.

epd: Es gibt Vorwürfe von Migrationsforschern, die Politik habe die eher ablehnende Stimmung in der Bevölkerung gegenüber Geflüchteten selbst mit angeheizt. Es sei immer nur von illegaler Migration und Überlastung der Kommunen die Rede. Wie reagieren Sie auf die Kritik?

Behrens: Dieser Vorwurf ist eine Unverschämtheit. Man sollte die Besorgnisse in der Bevölkerung nicht ignorieren, sondern ernst nehmen. In Niedersachsen leben heute mehr als 260.000 Menschen mit einer Fluchtgeschichte. 2015 waren es 50.000. Wer so tut, als gäbe es keine Herausforderungen und als hätte sich die Aufnahmebereitschaft der Gesellschaft nicht verändert, stärkt die AfD. Die Bürgermeister beschreiben mir diese Sorgen und Herausforderungen. Das sollte man nicht negieren.

epd: Der Bund und die Länder wollen die Leistungen für Asylbewerber kürzen und abgelehnte Asylbewerber konsequenter abschieben. Migrationsforscher bezweifeln, dass sich davon Menschen abhalten lassen, nach Deutschland zu kommen. Was sagen Sie dazu?

Behrens: Es geht ja zunächst darum, das Asylrecht zu stärken und zu schützen. Derzeit haben aber etwa 30 Prozent der Menschen, die nach Deutschland und Niedersachsen kommen, nach Abschluss eines rechtsstaatlichen Verfahrens keinen Anspruch auf Asyl. Deshalb müssen sie das Land verlassen. Wenn sie das nicht tun, müssen sie zurückgeführt werden. Das ist aber nichts, das uns Freude macht.

In Zukunft können diejenigen, die in Deutschland eine Perspektive und Arbeit suchen, noch leichter über die neuen Regelungen im Fachkräfteeinwanderungsgesetz kommen. Das ist das Tor für reguläre Migration. Ein Teil der Regelungen ist jetzt in Kraft getreten, weitere folgen im März und Juni nächsten Jahres.

epd: Können auch diejenigen, die schon hier sind und keine Aussicht auf Asyl haben, auf das Fachkräfteeinwanderungsgesetz hoffen?

Behrens: Nein und ja. Bislang galt: Wer über das Asylverfahren eingewandert ist, aber nicht anerkannt wird, muss das Land verlassen. Ein Wechsel in einen Aufenthaltstitel als Fachkraft war bislang nicht möglich. Das ist das sogenannte Spurwechselverbot. Künftig wird dieses Spurwechselverbot nicht für vor dem 29. März 2023 eingereiste Asylbewerberinnen und Asylbewerber gelten, wenn diese ihren Asylantrag zurückgenommen haben und die Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis als Fachkraft erfüllt sind. In diesen Fällen – und nur in diesen Fällen – kann ein Aufenthaltstitel als Fachkraft unmittelbar in Deutschland erteilt werden.

Hinweisen möchte ich an dieser Stelle auf eine Regelung, die sich an langjährig Geduldete richtet und die bislang keine Möglichkeit für ein Bleiberecht hatten. Für diese Menschen gibt es seit Ende 2022 das Chancenaufenthaltsrecht. 8.275 solcher Anträge wurden in Niedersachsen bislang gestellt, 6.407 haben wir positiv beschieden, 612 abgelehnt.

epd: Die Menschen müssen für das Fachkräfteeinwanderungsgesetz aber durchaus schwierige Bedingungen erfüllen, wie etwa einen Berufsabschluss und Berufserfahrung im Heimatland nachweisen.

Behrens: Ja, das ist so. Aber wir sind uns doch einig, dass wir eine souveräne Nation sind, die entscheiden darf, wer hier leben und arbeiten darf und wer nicht. Und das Asylrecht wird dadurch ja gar nicht tangiert. Der überwiegende Teil der Asylsuchenden erhält einen entsprechenden Schutzstatus und das stellen wir in Niedersachsen auch nicht infrage. Und wir brauchen Menschen für unseren Arbeitsmarkt. Entscheidend ist aber, dass das Asylrecht denen vorbehalten bleibt, die wirklich darauf angewiesen sind.