Mit Sorge blickt der Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Abraham Lehrer, auf die Folgen des Hamas-Angriffs auf Israel am 7. Oktober 2023. Die anfängliche Welle der Empathie und Solidarität mit Israel und der jüdischen Gemeinschaft sei nach Beginn des Gaza-Kriegs zunehmender Kritik an Israel gewichen, sagte der Vorsitzende der Synagogen-Gemeinde Köln dem Evangelischen Pressedienst (epd). Das Schicksal der Geiseln in den Händen der islamistischen Hamas sei ungewiss und eine Friedenslösung sei nicht in Sicht. Angesichts eines erschreckenden Antisemitismus wünsche sich die jüdische Gemeinschaft Zeichen der Solidarität in der Breite der Gesellschaft.
epd: Am 7. Oktober vor einem Jahr hat die radikalislamische Hamas Israel angegriffen. Welche Auswirkungen hatte der Angriff auf die jüdische Gemeinschaft in Deutschland?
Abraham Lehrer: In den ersten Stunden und Tagen nach dem Überfall haben die jüdische Gemeinschaft in Deutschland und auch der Staat Israel eine riesige Welle der Empathie, Sympathie und Solidarität erlebt. Das änderte sich mit dem Einmarsch der israelischen Armee in den Gaza-Streifen: Kritik an Israel trat zunehmend in den Vordergrund, auch aufgrund der hohen Opferzahl aufseiten der Zivilbevölkerung in Gaza. Unsere Gemeindemitglieder berichten uns, dass sie angefeindet, gemobbt und gemieden werden. Auch Freunde wandten sich von ihnen ab und das Thema wird gemieden. Schülerinnen und Schüler erzählen, dass sie von arabischstämmigen Unterstützern der Hamas angegriffen, in die Ecke gedrängt und bedroht werden. All das verunsichert unsere Gemeindemitglieder.
epd: Beobachten Sie eine Zunahme von Antisemitismus?
Lehrer: Eine vor wenigen Tagen vorgestellte Studie zu Antisemitismus in Nordrhein-Westfalen hat erschreckende Zahlen zutage gefördert. Danach leugnen 19 Prozent der Befragten den Holocaust. Es gibt einen stark religiös motivierten Antisemitismus, dabei tragen hier lebende Muslime gegenüber den anderen Konfessionen am stärksten antisemitische Vorurteile in sich. Solche Erkenntnisse verunsichern die jüdische Gemeinschaft und einige fragen sich: War es die richtige Entscheidung, mich hier niederzulassen? Bin ich hier noch gewollt? Ist es sinnvoll, meine Kinder, meine Enkel hier in Deutschland großzuziehen?
epd: Wie sicher fühlen sich Jüdinnen und Juden in Deutschland?
Lehrer: Innerhalb der Gemeinde – bei Aktivitäten, Gottesdiensten oder Kulturveranstaltungen – fühlen sie sich recht sicher. Grundsätzlich gilt das auch für das eigene Zuhause. Aber wo jüdische Wohnungen mit Hakenkreuzen beschmiert oder rote Dreiecke als Zeichen der Hamas hinterlegt wurden, sieht das natürlich anders aus – da geht es wirklich ans Eingemachte. Es gibt Familien, die deshalb entschieden haben, dass sie ihre kleinen Kinder nicht mehr regelmäßig zum Gottesdienst mitbringen, sondern lieber in ihrem geschützten Raum lassen.
epd: Was wären denn Alternativen – in welchen Ländern würden sich Jüdinnen und Juden sicherer fühlen?
Lehrer: Viele sagen: Die einzige Region, in der du heute als Jude halbwegs sicher leben kannst, ist Israel. Wenn Sie sich in der Welt umschauen: Ein zweites Land, das frei von Antisemitismus ist, werden Sie nur schwerlich finden. Für manche unserer Gemeindemitglieder hat Israel allerdings den Status des Rettungsankers verloren, weil das Militär den Hamas-Überfall nicht verhindern konnte.
epd: Auch ein Jahr nach dem Überfall hat die Hamas noch Dutzende Geiseln in ihrer Gewalt. Haben Sie angesichts der aktuellen Entwicklung noch Hoffnung, dass diese Menschen lebend nach Hause kommen?
Lehrer: Niemand weiß vermutlich, wie viele Menschen noch in den Händen der Hamas sind und wie viele von ihnen noch leben. Vor einigen Wochen sind sechs Geiseln kurz vor ihrer Befreiung durch die israelische Armee von ihren Bewachern erschossen worden. So etwas kann immer wieder passieren. Es ist ungewiss, wie viele von ihnen gerettet werden können. Von einer Lösung sind wir noch weit entfernt. Aber man darf die Hoffnung nicht aufgeben: Man muss für die Menschen beten und zugleich muss man alles dafür tun, dass sie endlich aus ihrem Martyrium befreit werden und nach Hause kommen können.
epd: Wie beurteilen Sie in diesem Zusammenhang die Politik der israelischen Regierung unter Ministerpräsident Benjamin Netanjahu, die offenbar eher auf militärische Mittel als auf Verhandlungen setzt – trotz Massenprotesten für eine Feuerpause und einen Geisel-Deal?
Lehrer: Ich lebe hier in Deutschland und kenne mich hier aus. Mir fehlt Wissen über die Verhältnisse in Israel, um die Entscheidungen wirklich beurteilen und sagen zu können, Netanjahu ist an irgendetwas schuld. Viele unserer Gemeindemitglieder denken, dass das Leben der Geiseln durch das Handeln der Regierung Netanjahu mehr gefährdet wird und wurde, als es sein müsste. Aber wir wissen nicht, ob die Hamas die Geiseln wirklich freilassen würde, wenn es einen Waffenstillstand gäbe. Auch ich sehe einiges kritisch, was im Blick auf Netanjahu erzählt wird, etwa dass er an der Macht klebe. Aber wir sind jetzt im Krieg, das ist nicht die Zeit für Aufarbeitung oder gar für Neuwahlen.
epd: Wie blickt die jüdische Gemeinschaft in Deutschland auf die Entwicklung des Krieges, der inzwischen auch auf die Huthi-Rebellen im Jemen und vor allem mit Luftangriffen und dem Einsatz von Bodentruppen auf die Hisbollah im Libanon ausgeweitet wurde?
Lehrer: Es herrscht Sorge, ob und wie lange man in der Lage ist, einen Zwei-Fronten-Krieg zu führen. Die Armee hat die Hamas und die Hisbollah in die Schranken gewiesen, aber noch nicht besiegt. Ich fürchte, dass der Konflikt weiter eskalieren könnte. Hinzu kommt, dass Israel durch diesen Krieg, durch die Einberufung der Reservisten, mehr oder weniger lahmgelegt ist. Wie soll die Wirtschaft funktionieren, wenn Mitarbeiter in den Firmen fehlen?
epd: Wie pflegen die Juden in Deutschland in der jetzigen Situation den Kontakt zu Verwandten und Freunden in Israel?
Lehrer: Es gibt natürlich viel Kontakt über Chats und Videotelefon. Ich spreche fast täglich mit einer Schwester und einem Schwager in Israel. Auf meinem Smartphone habe ich eine App installiert, die in Israel vor Raketen und Drohnen warnt. Dann sehe ich, wo es in Israel Angriffe gibt, und frage nach, ob alles in Ordnung ist. Das Reisen nach Israel ist beschwerlich geworden, weil die europäischen Fluggesellschaften nach jeder leichten Eskalation ihre Flüge nach Israel einstellen. Das reduziert die Zahl der Flüge erheblich.
epd: Haben Sie noch Fantasie, wie eine Friedenslösung für den Nahen Osten und der Weg dahin aussehen könnten?
Lehrer: Ich bin ehrlich gesagt sehr pessimistisch. Wenn die bisherigen Verhandlungen unter Beteiligung der USA und arabischer Staaten nicht einmal zu einer Waffenruhe und einer Geisel-Freilassung geführt haben, weiß ich nicht, wie man das zustande bringen soll. Im Blick auf die Hamas sehe ich zudem das Problem, dass sie mit einer Freilassung aller Geiseln ihr Faustpfand verlieren würde. Daher muss eine Verhandlungslösung für die Geiseln wohl auch eine Regelung dafür enthalten, wie es im Gaza-Streifen weitergehen soll: Soll die Hamas dort weiterregieren? Oder sollen arabische Staaten dies übernehmen?
epd: Israels Regierungschef Netanjahu hat als Kriegsziel die Zerstörung der Hamas ausgegeben. Halten Sie das für realistisch?
Lehrer: Nein. Militärisch kann er die Hamas zwar besiegen. Aber im Gaza-Streifen ist die Hamas nach dem Rückzug Israels als Hilfsorganisation gestartet, sie hat die soziale Unterstützung für die Bevölkerung ausgebaut und dann von heute auf morgen die gesamte Verwaltung übernommen. Im sozialen Bereich ist sie noch immer sehr präsent und aktiv. Das kann man nicht alles beseitigen, ohne alles zu zerstören, was man vermutlich braucht, um dort eine vernünftige Verwaltung aufzubauen.
epd: Der israelische Botschafter in Berlin, Ron Prosor, hat als Weg zu einer Friedensordnung vorgeschlagen, Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate, Jordanien und Ägypten direkt zu beteiligen. Dieses „arabische Quartett“ solle die Verantwortung dafür übernehmen, dass im Gaza-Streifen ein demokratischer palästinensischer Staat entsteht. Wie denken Sie darüber?
Lehrer: Wenn diese Staaten sich darauf einlassen würden, wäre dies aus meiner Sicht eine Chance. Dann könnte vielleicht ein Vorläufer einer Zweistaatenlösung etabliert werden. Aber ich kann mir das kaum vorstellen, weil sich die Saudis des Risikos bewusst sind, dass sich dann die Huthi, die Hisbollah und die Hamas gegen sie wenden.
epd: Wie wichtig sind Solidaritätsbekundungen mit Israel und mit der jüdischen Gemeinschaft aus Ihrer Sicht – und haben Sie davon in Deutschland genug erlebt?
Lehrer: Öffentliche Solidarität ist sehr wichtig für uns. An unserer Kölner Synagoge hängt ein großes Plakat mit Bildern der Geiseln. Jeden Tag kommen dort Menschen hin und bedecken die Treppe vor einem Eingang der Synagoge mit frischen Blumen. Auch die Politik, große Verbände und Organisationen, der Sport, die Kultur und die Wirtschaft haben sich sehr eindeutig gegen Antisemitismus und für das Selbstverteidigungsrecht Israels ausgesprochen.
Was aber heute fehlt, ist ein Zeichen der breiten Gesellschaft, wie es das vor Jahrzehnten nach den ausländerfeindlichen Ausschreitungen und Anschlägen in Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen und Solingen gab. Damals gab es Lichterketten und Aktionen, mit denen die breite Gesellschaft der jüdischen Gemeinschaft das Gefühl vermittelt hat: Wir stehen an eurer Seite. Ein solches Zeichen für die jüdische Gemeinschaft sehen wir heute nicht. Das würden wir uns sehr wünschen.