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22 Schautafeln voller Emotionen

Wutbürger und deutsche Angst. Berliner Ausstellung zeigt Macht der Gefühle in 100 Jahren deutscher Geschichte. Sie kann als Angebot für die historisch-politische Bildungsarbeit genutzt werden.

Stolz ist ein Gefühl, das in Deutschland erst mit dem Sommermärchen der Fußball-WM 2006 wieder gesellschaftsfähig wurde. Jahrzehntelang versagten sich die meisten Deutschen die öffentliche Bekundung von Nationalstolz – eine Folge der NS-Zeit. Dabei warb bereits 1972 ein lächelnder Willy Brandt auf den Wahlplakaten der SPD mit dem Satz: „Wir können stolz sein auf unser Land“. Stolz auf die Arbeit, hieß das, mit der sich die Bundesbürger ihren wirtschaftlichen Wohlstand verdient hatten.
Die DDR verlangte ihrerseits von ihren Bürgern, auf das „sozialistische Vaterland“ stolz zu sein. Stolz oder Scham, Wut oder Angst, Hass oder Hoffnung sind Gefühle, mit denen immer auch Politik gemacht wurde und wird.

Zentrale Wegmarken der deutschen Geschichte

Erstmals unternimmt eine Ausstellung den Versuch, die letzten 100 Jahre deutscher Geschichte über die Gefühlswelten der Deutschen und ihre Instrumentalisierung durch die Politik zu erklären. „Die Macht der Gefühle. Deutschland 19 / 19“ heißt die Schau, die als Tafelausstellung auf Initiative der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ (EVZ) sowie der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur erarbeitet wurde.
Seit dem 20. März noch bis zum 5. April ist sie in Berlin in der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur zu sehen. Premiere der Schau war in der Bundeshauptstadt im Philip-Johnson-Haus, wo sie zuvor präsentiert wurde.
Anlass sind zentrale Wegmarken der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts, die sich im Jahr 2019 jähren: von der Gründung der Weimarer Republik 1919, dem Beginn des Zweiten Weltkriegs 1939, über die doppelte deutsche Staatsgründung 1949 bis zur Friedlichen Revolution 1989. Die Schau wurde von der Historikerin Ute Frevert, Direktorin des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung in Berlin und Leiterin des Forschungsbereichs „Geschichte der Gefühle“ entwickelt, gemeinsam mit der Historikerin Bettina Frevert, die in der Bildungsarbeit insbesondere mit jungen Menschen mit und ohne Migrationshintergrund tätig ist.

Heute verfolgen die Deutschen laut einer aktuellen Forsa-Umfrage, die von den beiden Bundesstiftungen aus Anlass der Ausstellung in Auftrag gegeben wurde, vor allem mit Gefühlen von „Angst“ (56 Prozent) und „Wut“ (57 Prozent) die aktuelle gesellschaftliche Entwicklung in der Bundesrepublik.
Ausgangspunkt der Schau „Die Macht der Gefühle“ ist die Frage, welche Emotio­nen die Kontinuitäten und Brüche in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts begleiteten. Auf 22 Tafeln werden Gefühle wie „Wut“, „Angst“, „Begeisterung“ oder „Zorn“ in ihren heutigen Erscheinungsformen aufgegriffen und am Beispiel von Ereignissen in ihren historischen Ausprägungen zurückverfolgt.

Beim Thema „Wut“ ist der Aufmacher das Foto einer Demo gegen das umstrittene Bahnhofs-Bauprojekt „Stuttgart 21“ von 2010. Der Text daneben greift das Beispiel auf und wirft Schlaglichter auf Ereignisse wie die politischen Protestbewegungen der 1960er Jahre, den Aufstand des 17. Juni 1953 und schließlich die staatlich gelenkten antisemitischen Pogrome des 9. November 1938 als vermeintlicher Ausdruck der „kochenden Volksseele“.

Die Tafel über das Gefühl „Angst“ schlägt den Bogen von der aktuellen Angst vieler vor ungeregelter Einwanderung oder Altersarmut, über die Angst, die von Deutschen im Zweiten Weltkrieg ausging bis zur Inflationsangst, die ins Jahr 1923 zurückreicht. Für Angst als Motor von Veränderung stehen Umwelt-Demonstrationen der 1980er Jahre, die Leipziger Montagsdemos von 1989 für die Überwindung von Angst.
Die Überblickstexte der jeweiligen Tafel ergänzen ausgewählte Fotos und Faksimiles sowie multimediale Begleitangebote. Sie regen dazu an, sich mit der Macht der Gefühle, ihrer Bedeutung für die Gesellschaft und ihrer Instrumentalisierung durch die Politik auseinanderzusetzen. „Gefühle ermöglichen einen direkteren Zugang zu abstrakten Themen wie Demokratie oder Diktatur“, glaubt die Historikerin Ute Frevert.
Die Ausstellung ist auch als Poster-Set im DIN-A1-Format auf Deutsch sowie in acht weiteren Sprachen erhältlich und kann als Angebot für die historisch-politische Bildungsarbeit an Schulen, kommunalen Einrichtungen und anderen politischen Bildungsträgern genutzt werden. Sie ist in einer Auflage von 3000 Exemplaren erschienen und wird unter anderem über die Goethe-Institute weltweit verteilt.
Schon jetzt, betonte Anna Kaminsky, Geschäftsführerin der Bundesstiftung Aufarbeitung, sei das Interesse im In- und Ausland sehr groß. Die Schirmherrschaft über die Ausstellung hat Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD).

Die Ausstellung ist gegenwärtig noch bis zum  5. April in Berlin in der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur zu sehen: montags bis freitags, 10-16 Uhr. Internet: https://machtdergefuehle.de/.