Heike Heubach aus Bayerisch-Schwaben ist die erste und einzige gehörlose Bundestagsabgeordnete. Im Parlament hat die SPD-Politikerin bisher bessere Erfahrungen im Umgang mit ihrer Behinderung gemacht als im Alltag.
Der 20. März 2024 war ein Tag für die Geschichtsbücher: Damals zog die erste taube Abgeordnete in den Deutschen Bundestag ein. Es handelt sich um Heike Heubach (44). Nach ihren ersten 100 Tagen im Parlament zieht die SPD-Frau aus Stadtbergen bei Augsburg Bilanz. Im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) spricht Heubach über eine positive Überraschung in Berlin, Unfassbares aus der Straßenbahn und sprachliche Stolpersteine zwischen Schwaben und der Hauptstadt.
KNA: Frau Heubach, in der Deutschen Gebärdensprache (DGS) wird Ihr Name mit der Gebärde für Lächeln dargestellt. Solche Gebärdennamen werden nach typischen Eigenschaften vergeben. Ist der Name nach 100 Tagen im Bundestag noch berechtigt?
Heubach: Ja! Der Name passt total zu mir, ich bin einfach ein grundsätzlich optimistischer Mensch. Und im Bundestag bin ich positiv überrascht worden.
KNA: Inwiefern?
Heubach: Die Barrierefreiheit ist dort sehr groß. Das bin ich bisher ganz anders gewohnt. Im Berufsleben musste ich oft für Gebärdensprachdolmetschende kämpfen, da gab es häufig Kostendebatten. Im Bundestag hingegen habe ich immer Dolmetschende zur Verfügung. Im Parlament habe ich noch keine Ausgrenzung erfahren, da habe ich wirklich das Gefühl, fast gleichauf mit hörenden Menschen zu sein.
KNA: Fast?
Heubach: Irgendwelche Kleinigkeiten gibt’s natürlich immer. Zum Beispiel kostet es mich wertvolle Zeit, dass meine Dolmetschenden, anders als ich und meine anderen Mitarbeitenden, immer durch die Sicherheitskontrollen gehen müssen, weil sie externes Personal sind.
KNA: Was bedeutet Ihr Bundestagseinzug für das Thema Barrierefreiheit?
Heubach: Ich hoffe: mehr Sichtbarkeit und in der Folge konkrete Verbesserungen. Dabei geht es mir nicht nur um Gehörlosigkeit, sondern um alle Behinderungen. Auch Menschen mit Blindheit und Sehbehinderung oder Menschen im Rollstuhl könnten es im Alltag viel leichter haben, etwa wenn es flächendeckend Bodenleitsysteme gäbe und die Fahrstühle an Bahnhöfen funktionierten.
KNA: Bleiben wir bei Ihrer Einschränkung: Taub und gehörlos, sind diese Begriffe eigentlich gleichbedeutend?
Heubach: Ja, ich bevorzuge taub. Bloß “taubstumm” sagt man nicht. Wir Gehörlose haben ja eine Stimme, wir können doch kommunizieren.
KNA: Sie sind die erste taube Bundestagsabgeordnete überhaupt. Was glauben Sie: Warum hat es so lange gedauert?
Heubach: Das hängt mit der Geschichte zusammen: 1880 gab es einen internationalen “Taubstummenlehrer-Kongress” in Mailand. Dort wurde entschieden, den Unterricht für gehörlose Kinder nur noch in Laut- und nicht mehr in Gebärdensprachen abzuhalten. Die Tauben sollten sich der Mehrheit anpassen, man wollte keine “Sondergruppen”. Die Kinder sollten also fortan auf visuelle und manuelle Kommunikation verzichten und nur noch von den Lippen ablesen. Manche mussten sich sogar auf ihre Hände setzen, um sie zu nicht benutzen. Dieser sogenannte Oralismus wurde in Deutschland besonders stark vertreten – mit verheerenden Folgen für die Bildung der betroffenen Generationen.
KNA: Welchen?
Heubach: Man kann nur 20 Prozent des Gesagten von den Lippen lesen. Der Rest ist Kombinationsleistung. Es ist daher nur begrenzt möglich und zudem ungeheuer anstrengend, gesprochene Sprache von den Lippen abzulesen. Der Bildungsstand tauber Kinder ist nach dem Mailänder Kongress eingebrochen. Die Lesekompetenz in zehnten Klassen war in meiner Generation im Durchschnitt so ausgebildet wie bei hörenden Kindern in der vierten Klasse. Erst 2002 wurde die Deutsche Gebärdensprache in Deutschland als eigenständige Sprache anerkannt. Sie bekannter zu machen, halte ich für wichtig für die gesamte Gesellschaft.
KNA: Warum?
Heubach: Sie ermöglicht tauben und auch schwerhörigen Menschen die Teilhabe. Und taub oder schwerhörig kann jede Person werden. Sei es durch das Alter, durch Krankheiten oder Unfälle. Außerdem sind alle Gebärdensprachen ein Stück Kulturgut, das wir pflegen sollten. Sie sind in jedem Land, ja sogar in jeder Region anders. Ich gebärde schwäbisch, das versteht in Berlin nicht jeder ohne Weiteres. So wie man in der deutschen Lautsprache von Semmeln und Schrippen redet, gibt es etwa unterschiedliche Gebärden für Mittwoch.
KNA: Wie sind Ihre Alltagserfahrungen damit?
Heubach: Ich habe dadurch durchaus schon Ausgrenzung erlebt, allerdings wohl eher unbeabsichtigte. Was zum Beispiel immer wieder vorkommt: Ich sitze in einer Gesprächsrunde ohne Dolmetschende und die Unterhaltung geht munter durcheinander. Dann frage ich nach und da heißt es oft: “Ach, das war gar nicht wichtig.” War es vielleicht wirklich nicht, aber die Entscheidung liegt bei mir, ob es wichtig ist.
KNA: Gibt es weitere Beispiele?
Heubach: Oh ja. Als ich vor vielen Jahren mit einer meiner Töchter Straßenbahn fuhr und mich mit mir in DGS unterhielt, wollte jemand herausfinden, ob eine von uns beiden hören kann. Als sich herausstellte, dass nur ich taub bin, sagte die Person zu meiner Tochter: “Ach, du armes Kind!” Unfassbar, oder? Außerdem: Ich kann schwimmen! Ich kann Auto fahren! Klar – warum auch nicht? Für viele Leute ist das aber überraschend, weil sie zu denken scheinen: “Die kann nicht hören, die kann auch sonst nichts.” Quatsch! Taube Menschen können alles – das ist mein Motto.
KNA: Das Medieninteresse an Ihrem Bundestagseinzug war aufgrund Ihrer Behinderung sehr groß. Wie finden Sie diesen Fokus?