Rund 1.800 Ordner umfasst das Augstein-Archiv im Hamburger “Spiegel”-Stammsitz. Das Magazin erinnert mit einem umfangreichen Dossier an seinen legendären Gründer. Er prägte den Journalismus in Deutschland.
Der große Reporter Herbert Riehl-Heyse zog in den 1990er Jahren nach einem Treffen mit Rudolf Augstein einen gewagten Vergleich. Der Mann, der dem Besucher da in der Strickjacke auf einem weißen Sofa mehr gegenüberliege als -sitze, erinnere geradezu verzweifelt an einen anderen. “Fast ohne Hals, den Kopf direkt aus den hochgezogenen Schultern wachsen lassend, die unglaublich wachen Augen gelegentlich zu kleinen Schlitzen verengt: Ist denn wirklich niemandem aufgefallen, dass Rudolf Augstein in bestimmten Momenten niemandem so ähnelt wie… wie Franz-Josef Strauß?”
An dem CSU-Politiker hatte sich das von Augstein gegründete Magazin “Spiegel” gründlich abgearbeitet. Das Ganze gipfelte in der Titelgeschichte “Bedingt abwehrbereit”. Darin deckten die Autoren im Herbst 1962 Schwächen der noch jungen Bundeswehr auf. Ein Frontalangriff auf Strauß, damals Verteidigungsminister, der die Bonner Republik zum Beben brachte. Bundeskanzler Konrad Adenauer witterte einen “Abgrund von Landesverrat”, Augstein und weitere “Spiegel”-Mitarbeiter wanderten zeitweilig hinter Gittern.
Letzten Endes machte die Affäre das Magazin zum Inbegriff der Pressefreiheit und der vierten Gewalt im Staat. Bis auf den heutigen Tag zehrt der “Spiegel” von diesem Nimbus. Und Augstein, der vor 100 Jahren, am 5. November 1923, in Hannover zur Welt kam, ist weiter so etwas wie ein Übervater der schreibenden Zunft. Sein Aufstieg setzte unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg ein. In Hannover, damals zur britischen Besatzungszone gehörend, machte er Bekanntschaft mit dem Journalismus angelsächsischer Prägung und einem umtriebigen Presseoffizier namens John Chaloner. Der gründete wenig später ein “Nachrichtenmagazin” namens “Diese Woche”, das schnell zu einer Spielwiese für Augstein wurde.
“Er war sehr kühl, sehr zurückhaltend, er machte nicht viel von sich her, er schmeichelte nicht, und er hatte keine Angst”, urteilte Chaloner. “Er war einer der sehr seltenen Deutschen, der eine typische Eigenschaft der Deutschen nicht hatte. Er bezog nichts auf sich, und ich glaube, das machte ihn zu einem guten Beobachter.” Augsteins Recherchen machten die Alliierten sehr bald auf das Blatt aufmerksam.
Der ehemalige Wehrmachtssoldat deckte auf, dass in den Reihen der französischen Fremdenlegion reihenweise alte Kameraden anlandeten. Oder, dass britische Unternehmen deutsche Patente klauten. Nach dieser Story wollten die Briten “Diese Woche” offenbar schleunigst loswerden. “Augstein bekam als Erster die Chance”, schreibt Biograph Ulrich Greiwe. “Er könne die Zeitschrift haben, wenn er die Macht mit zwei weiteren Lizenznehmern teile.”
Augstein fackelte nicht lange. Zusammen mit Roman Stempka und Gerhard R. Barsch übernahm er “Diese Woche”; jeder der drei zahlte 10.000 Reichsmark. Jetzt brauchte das Kind nur noch einen neuen Namen. Augstein fragte seinen Vater Friedrich, wie er wohl das Magazin künftig nennen solle, das in einem von Krieg und Nationalsozialismus verwüsteten Land erscheinen würde. Angeblich antwortete Augstein senior: “Nennt es doch ‘Der Spiegel’.”
Die erste Ausgabe erschien am 4. Januar 1947 mit einer Startauflage von 15.000 Exemplaren. Die 22 Seiten widmeten sich unter anderem der Diskussion um den Abtreibungsparagrafen 218 sowie der Situation auf dem Schwarzmarkt. Augstein bewies lange Jahre ein geradezu traumwandlerisches Gespür für Themen – ungeachtet eines kurzen Ausflugs in die Politik 1972/73 als Bundestagsabgeordneter für die FDP.
Der Gründervater, der in einem Fragebogen der “Frankfurter Allgemeinen Zeitung” Zynismus als seine Lieblingstugend angab, prägte jahrzehntelang den Sound des “Spiegel”. Sein legendärer Ausspruch “Sagen, was ist” prangt heute noch im Foyer des “Spiegel”-Hochhauses an der Ericusspitze in Hamburg. Auch wenn manche Kritiker nicht nur “Spiegel”-Journalisten unterstellen, sie würden kaum mehr schreiben, was ist, sondern herbeischreiben, wie es sein sollte.
Zu Augsteins 100. betont der aktuelle Chefredakteur Dirk Kurbjuweit, wie wichtig es für die Branche sei, nach allen Seiten Distanz zu halten. “Unabhängigkeit ist die Grundlage für Vertrauen in die Medien.” Dafür mag auch Augstein selbst stehen, dem sein Abizeugnis 1941 bescheinigte: “Guter Denker mit selbständigem Urteil.”
Ein eigenes Urteil erlaubte sich der aus katholischem Elternhaus stammende Publizist auch mit seiner 1972 veröffentlichten Biografie “Jesus, Menschensohn”. Laut den “Spiegel”-Granden Martin Doerry und Hauke Janssen dokumentierte das Buch Augsteins persönliche Ablösung vom katholischen Glauben. Das Thema ließ ihn freilich auch nach seinem Kirchenaustritt nie ganz kalt. “Was möchten Sie sein?”, wollte der bereits erwähnte FAZ-Fragebogen von ihm wissen. “Zu mir selbst gerecht und ein guter Christ”, lautete Augsteins Antwort.
Am 7. November 2002 starb der “Spiegel”-Gründer in Hamburg. Beerdigt wurde er auf der Nordseeinsel Sylt, wo er ein Ferienhaus besaß. Freidenker, Konfessionslose und Atheisten stießen sich damals daran, dass Hamburg für seinen Ehrenbürger eine Trauerfeier im Michel mit Beteiligung von Kirchenvertretern organisierte. Dieser Sturm legte sich schnell. In Erinnerung bleibt dagegen der Nachruf von Schriftsteller Martin Walser, einem engen Weggefährten Augsteins. “Man wird doch auch noch schreien dürfen. Wenn so einer stirbt. So ein toller Kerl. Sense.”