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“Wir dürfen uns bei der Gesamtstrategie nicht verzetteln”

Mit rund 200.000 Kirchenmitgliedern ist das evangelische Dekanat München das größte Dekanat der Landeskirche. In einem Reformprozess hat es nun seine Organisationsstruktur erneuert: Die sechs alten Prodekanate gibt es nicht mehr, stattdessen sollen bis Ende 2026 Nachbarschaftsräume entstehen, in denen je vier bis fünf der aktuell 62 Gemeinden zusammenarbeiten. Drei Dekane-Tandems bilden das Dekanekollegium, das mit dem ständigen Ausschuss der Dekanatssynode die Entscheidungen trifft. Ein Gespräch mit Stadtdekan Bernhard Liess.

epd: Herr Stadtdekan, im Vergleich zu anderen Dekanaten in Bayern: Was ist das Spezielle München?

Liess: Es ist der größte Dekanatsbezirk in Bayern und auch einer der größten im evangelischen Deutschland. Wir haben zahlreiche Einrichtungen, Werke und Gemeinden, das macht die Leitung komplex. Überwiegend liegt der Dekanatsbezirk in der Großstadt, aber große Teile im Norden und Süden sind ländlich geprägt. Die Citygemeinden ticken vielfach ganz anders als jene im Speckgürtel, wo klassische Gemeindearbeit noch gut funktioniert.

epd: Bislang war das Dekanat in sechs Prodekanate unterteilt, sie wurden mit der Reform abgeschafft. Wenn Sie die alte und die neue Struktur als Bild beschreiben sollten: Wie sieht das aus?

Liess: Bislang hatten wir sechs Schiffe mit eigenem Kurs und das Gesamtdekanat als Beiboot, das versucht hat, per Megafon von außen ein bisschen mitzusteuern. Jetzt haben wir ein Schiff mit einem Kurs. Und auf der Brücke stehen Leute, die das Mandat haben, Entscheidungen für das Ganze zu treffen.

epd: Warum ist diese neue Struktur nötig?

Liess: Die bisherige Struktur hat es erschwert, eine inhaltliche Strategie für die evangelische Kirche in der Region festzulegen. Laut Prognosen halbiert sich aber die Mitgliederzahl im Dekanatsbezirk bis spätestens 2050, wir werden weniger Ressourcen haben und nicht mehr alles machen können. Da sind grundsätzliche Entscheidungen über die Ausrichtung nötig.

epd: Was ist das Ziel?

Liess: Nachdem die Strukturfragen geklärt sind, müssen wir jetzt sehr schnell eine inhaltliche Strategie festlegen, wofür wir das weniger werdende Geld verwenden wollen. Dazu wollen wir alle Arbeitsfelder betrachten und mit Blick auf die Zukunft gewichten. Mit hinein spielt der landeskirchliche Prozess, den Immobilienbestand um die Hälfte zu reduzieren oder zu transformieren. Gebäude, Stellenplanung, Arbeitsfelder, Haushaltsmittel: das alles greift wie Zahnräder ineinander. Wir dürfen uns nicht verzetteln, sonst funktioniert es nicht. Bis spätestens Ende 2026 muss unsere Strategie stehen.

epd: Die Haupt- und Ehrenamtlichen sind dabei stark gefordert. Worum bitten Sie die Aktiven in diesem Prozess?

Liess: Um ihr Wohlwollen, das uns bis jetzt begleitet hat, und um die Einsicht, dass Kirche sich verändern muss. Der Schmerz darüber ist an mancher Stelle schon deutlich spürbar, aber wir stoßen auf viel Zustimmung. Dazu trägt sicher bei, dass wir alle Pläne offen auf den Tisch legen. Schön ist auch die Aufbruchstimmung bei den Hauptamtlichen. Im Pfarrkapitel sitzen nicht müde, verbitterte Pfarrerinnen und Pfarrer, sondern solche, die den Moment nutzen wollen und Lust haben, mit frischem Wind Dinge zu verändern. Die Chance dazu ist groß: Ich habe in meinem Berufsleben noch nie erlebt, dass innerhalb der Kirche so viel möglich ist.

epd: Die evangelische Kirche schrumpft bis spätestens 2050 um die Hälfte ihrer Mitglieder und Finanzen. Dem trägt die Reform mit Tandemleitung und Nachbarverbänden Rechnung, denn so können in ein paar Jahren Stellen wegfallen, ohne dass die Struktur zerbricht. Ist das eine Kapitulation vor den Prognosen?

Liess: So würde ich das nicht bezeichnen. Aber wir müssen uns eingestehen, dass der Plan „Wachsen gegen den Trend“ nicht aufgegangen ist. Fachleute sagen uns, dass unsere Kirche in den nächsten Jahren kleiner wird und dass wir auch mit bester Arbeit nur bedingt neue zahlende Mitglieder gewinnen können. Das müssen wir akzeptieren. Aber fast genauso wichtig ist die Einsicht, dass das bisherige System in manchen Punkten nicht entscheidungsfähig war. Die „Macht“ war – typisch evangelisch – verteilt auf zu viele verschiedene Gremien. Aber so gibt es keine klaren Entscheidungen und niemanden, der am Ende verantwortlich ist. In der neuen Dekanatsstruktur ist die Verantwortlichkeit klar geregelt: Zwei Gremien, das Dekanekollegium und der Dekanatsausschuss als ständige Vertretung der Dekanatssynode, treffen die Entscheidungen für das Ganze.

epd: Wie wollen Sie mit schwindenden Kräften die evangelische Gemeinschaft in München erhalten?

Liess: Es ist ja nicht so, dass wir uns schulterzuckend ergeben und sagen: So ist es, da kann man nichts machen. Wir haben viel zu bieten. Wir spüren ein großes spirituelle Bedürfnis der Stadtgesellschaft. Da können wir beispielsweise mit unserem spirituellen Zentrum St. Martin noch stärker leuchten. Wir spüren das große Bedürfnis, in der Kulturstadt München Kirche und Kultur zusammenzubringen. Wenn jemand zum Gottesdienst mit Bach-Kantate einlädt oder einer anderen kulturellen Attraktion, dann sind die Kirchen voll. Wir spüren das Bedürfnis danach, dass Kirche sich um soziale Fragen kümmert. So gewinnen wir Relevanz in der Stadtgesellschaft: wenn wir uns um den ureigensten Auftrag von Kirche kümmern und Menschen helfen. Das alles führt nicht zu scharenweisen Eintritten. Aber es zeigt den Menschen: Kirche ist ein einladender Ort, der viel bietet. (0793/09.03.2025)