Für eine Doku zur Zeitenwende kehrt Anne Will ins Fernsehen zurück. Gemeinsam mit der Filmemacherin Julia Friedrichs spricht sie über die Arbeit am Film, Irrtümer der Vergangenheit und Einsatzbereitschaft im Kriegsfall.
Spätestens seit Russland im Februar 2022 die Ukraine angegriffen hat, sind viele Deutsche im Schockzustand. Alte Gewissheiten zu Krieg und Frieden scheinen nicht mehr zu gelten.
Dieser Verunsicherung gehen Anne Will (59) und Julia Friedrichs (45) in einer neuen Doku für die ARD auf den Grund. Sie sprechen unter anderem mit minderjährigen Bundeswehrrekruten, Friedensaktivisten, Verteidigungsminister Boris Pistorius und dem russischen Botschafter in Deutschland, Sergej Netschajew. Im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) reflektieren die Journalistinnen die Arbeit an der Doku und ihre eigene Einstellung zu Verteidigung, Militär und Krieg.
Will: Weil es ein hochaktuelles, existenzielles Thema ist. Frieden schien uns selbstverständlich – und jetzt stecken wir Milliarden in die Bundeswehr und diskutieren über die Wehrpflicht. Wir haben uns die Frage gestellt, ob die Deutschen Angst vor Krieg haben müssen.
Will: Es gibt viele Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen Angst vor Krieg haben. Die große Mehrheit fühlt sich von Russland bedroht, in Osteuropa, wo wir ja auch gedreht haben, aber auch in Deutschland. Ein kleinerer Teil fürchtet aber auch, dass die Aufrüstung des Westens Russland erst zu einem Angriff provozieren könnte.
Will: Natürlich wurde auch 2014 nach der Annexion der Krim und des Donbas viel berichtet. Ich gebe aber zu: Ich konnte mir nicht vorstellen, wie sehr Putin sich radikalisieren könnte. In Litauen habe ich bei den Dreharbeiten erlebt, dass sich die Menschen an der Grenze zur russischen Exklave Kaliningrad da nie Illusionen gemacht haben.
Friedrichs: Das betrifft ja nicht nur den Journalismus. Wir hatten alle einen blinden Fleck, auch die Politik und die Gesellschaft. Wenn man die Panzersperren auf der Brücke zwischen Litauen und Russland sieht, wird einem klar, dass wir es uns zu leicht gemacht haben.
Friedrichs: Als die Mauer gefallen ist, war ich neun. Mein ganzes Erwachsenenleben stand unter der Prämisse, dass das “Ende der Geschichte” erreicht sei. Ich hätte nie damit gerechnet, dass diese Themen mich mal so beschäftigen; aber im Augenblick sind all diese Gewissheiten in Frage gestellt. Es ist aber eben alternativlos, schnell Antworten darauf zu finden und die Bequemlichkeit abzulegen.
Will: Ich erinnere mich tatsächlich an das Gefühl, das der Kalte Krieg bei mir ausgelöst hat. Ich hatte Angst vor einem Dritten Weltkrieg und war auch Teil der Friedens-AG in meiner Schule. Spätestens mit dem Mauerfall war ich aber wie die meisten meiner Generation überzeugt, dass alles immer besser werden wird. Jetzt droht das Schutzversprechen der USA wegzubrechen, in dem wir es uns gemütlich eingerichtet hatten. Darauf müssen wir eine Antwort finden, die den Frieden erhält.
Friedrichs: Eher eine Drei-Klassen-Gesellschaft. Extrem Reiche bauen sich schon seit Jahren private Bunker. Jetzt soll das Produkt auch in die obere Mittelschicht verkauft werden. Aber der Bunkerunternehmer wünscht sich Investitionen in die kommunalen Schutzräume. Es ist nicht seine Schuld, dass hier nichts passiert und wir bestenfalls gutgläubig, schlimmstenfalls fahrlässig, Bunker in Konzerthallen, Hotels oder Kunstgalerien umgewandelt haben.
Friedrichs: Eine Doku bewegt sich ja immer ein bisschen aus der Aktualität heraus und macht die drei Schritte in die Vogelperspektive. Die Münchner Sicherheitskonferenz, bei der wir dabei sein konnten, war sicher ein Wendepunkt. Das Entsetzen und die Verunsicherung waren riesig. Durch diesen Bruch navigiert der Film hindurch.
Will: Ich bin ja eher das aktuelle Arbeiten gewohnt. Ich habe Julia ein paar Mal gefragt, wie wir die Rasanz der Ereignisse erfassen können, ob wir mit dem Sendetermin dann nicht zu spät kommen. Aber es geht eben eher um die großen Linien. Verunsicherung streuen: Das ist die Strategie der Trump-Regierung. Man soll nicht mehr hinterherkommen. Da konnten wir uns für die hintergründige Doku viel leichter rausziehen; das war für mich eine gute Erfahrung.
Will: Das glaube ich nicht. Der Botschafter etabliert hier sein eigenes Opfer-Narrativ und schafft einen Vorwand für einen etwaigen Angriff. Das haben meine Nachfragen deutlich offengelegt, und ich glaube schon, dass das verstanden worden ist. Wir rasseln da ja auch nicht in den luftleeren Raum hinein. Es ist mittlerweile bekannt, wie russische Desinformationskampagnen ablaufen.
Friedrichs: Frieden ist mehr als die Abwesenheit von Krieg. Es ist eine bequeme Abkürzung, wenn man sagt: Hauptsache, die Waffen schweigen. Das ist nicht das, was sich viele Menschen als selbstbestimmte, freie Zukunft vorstellen. Es ist wichtig, die Frage zu stellen, wer was meint, wenn er von Frieden spricht. Das Ehepaar, das fünf Millionen Euro an das Bündnis Sahra Wagenknecht gespendet hat, meint mit Frieden etwas anderes als die Frau, die in Litauen an der Grenze zu Kaliningrad lebt. Es ist wichtig, beide zu hören, aber ein Gespräch trotzdem auch nicht ohne Widerspruch, ohne Positionierung und ohne die Einbettung von Recherche zu führen.
Will: Ich beschäftige mich durchaus mit der Frage, wie man eine Wehrpflicht neu aufsetzen könnte. Ich war mit 18 schon der Meinung, dass auch Frauen eingezogen werden sollten. Das sehe ich heute immer noch so. Ich würde mich auch gerne in der einen oder anderen Form für das Land engagieren; darüber habe ich durchaus neu nachgedacht. Für den Dienst an der Waffe bin ich aber zu alt, da wartet keiner auf mich, und ich bin ja auch nicht ausgebildet – eben weil Frauen damals nicht eingezogen wurden.
Friedrichs: Ich habe auch viel darüber nachgedacht, noch mal aus einer anderen Perspektive. Ich habe zwei Kinder und frage mich, wie deren Zukunft aussehen wird, was wir ihnen abverlangen werden. Es befremdet mich immer, wenn da ältere Herren in Runden sitzen und über die Jungen verfügen. Wir müssen eine Debatte darüber führen, wie sich die gesamte Gesellschaft an der Verteidigung beteiligen kann. Wie stellen wir sicher, dass nicht nur die Kinder aus ärmeren Familien eingezogen werden? Wie beteiligen wir die Älteren, zum Beispiel finanziell?
Will: Das ist ja auch ein großer Hebel für die Frage, wie wir die Gesellschaft resilienter machen. Wir brauchen einen Ausgleich zwischen Pflicht und Freiwilligkeit; aber wir alle müssen mithelfen. Wenn der Verteidigungsminister von Kriegstüchtigkeit oder Verteidigungsbereitschaft spricht, meint das natürlich auf der einen Seite Aufrüstung. Aber eben auch ein gesellschaftliches Bewusstsein für die Bedrohung und für die Aufgaben, die vor uns liegen.