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„Jede Stimme ist wichtig“: Wie Wählen leichter geht

Millionen Wahlberechtigte mit Lese- und Schreibproblemen stehen bei Wahlen vor Problemen, trotz Angeboten in Leichter Sprache. Der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung sieht Handlungsbedarf.

Wahlzettel in leichter Sprache: Seit 2015 werden die Bremer Wahlunterlagen in Leichter Sprache verfasst, damit auch geistig Behinderte und Menschen mit geringen Deutschkenntnissen sie verstehen können
Wahlzettel in leichter Sprache: Seit 2015 werden die Bremer Wahlunterlagen in Leichter Sprache verfasst, damit auch geistig Behinderte und Menschen mit geringen Deutschkenntnissen sie verstehen könnenImago / Eckhard Stengel

Barbara Reindl ist viel beschäftigt. Die Übersetzerin für Leichte und Einfache Sprache blättert sich durch eng bedruckte Wahlbenachrichtigungen und Merkblätter. „Ich muss Kompliziertes einfach machen“, sagt die 62-jährige Hamburgerin. Seit Wochen gibt sie in Norddeutschland Workshops zur Bundestagswahl am 23. Februar und zur Hamburger Bürgerschaftswahl am 2. März. Sie hilft damit Menschen mit Lernschwierigkeiten, seelischen Beeinträchtigungen und fehlenden Sprachkenntnissen, aber auch Assistenzen, die mit Leichter Sprache arbeiten. Reindl: „Ich erkläre zum Beispiel in einfachen Worten, was genau gewählt wird, wie eine Wahl abläuft und was in Wahlbenachrichtigungen steht.“

Ihre Kurse sind ausgebucht. „Viele denken, dass die Wahl etwas ganz Selbstverständliches ist. Das stimmt aber nicht“, sagt die Sprachexpertin. Menschen, die schlecht lesen und schreiben können oder vielleicht nicht in Deutschland geboren wurden, fühlen sich bei Wahlen unsicher. „Das fängt schon bei den farbigen Umschlägen an und der Frage, welcher Zettel wo hineingehört“, sagt die Sprachwissenschaftlerin. Auch Bezeichnungen wie „Versicherung an Eides statt“ seien für sie eher abschreckend. In ihren Workshops baut Reindl eine Wahlkabine auf und spielt die Wahlabläufe ganz praktisch durch. Reindl: „Das gibt Teilnehmenden viel Sicherheit.“

Millionen Deutsche kämpfen mit Lese- und Schreibproblemen

Wie groß das Problem ist, zeigt die sogenannte Leo-Studie der Universität Hamburg aus dem Jahr 2018: Demnach können 6,2 Millionen Menschen in Deutschland nicht richtig lesen und schreiben. „Unsere Untersuchung hat gezeigt, dass das Leben mit geringer Literalität mit Ausgrenzungen und großen Unsicherheiten im Alltag verbunden ist“, erklärt Anke Grotlüschen, Leo-Studienleiterin und Professorin für Lebenslanges Lernen. Zwei Drittel hätten große Schwierigkeiten, politische Fragen zu verstehen und einzuschätzen. Grotlüschen: „Auch die aktuellen Befunde jüngerer OECD-Studien zeigen, dass die Entwicklung im Bereich Schriftsprachkompetenz eher negativ verläuft.“

Mittlerweile stellt sich die Politik darauf ein. Auf den Internetseiten von SPD, CDU/CSU, FDP, Grünen und Linken finden sich die Wahlprogramme auch in Leichter Sprache, bei der AfD fehlt dieser Service. „Es gibt immer mehr gute Informationsangebote zur Wahl in Leichter Sprache“, sagt Jürgen Dusel, Behindertenbeauftragter der Bundesregierung. Bereits seit Jahren bietet die Bundeszentrale für politische Bildung in ihrer inklusiven Reihe „einfach Politik“ Webseiten, Hefte, Hörbücher und ein Lexikon an. Zur aktuellen Bundestagswahl wurden 45.000 Hefte in einfacher Sprache verschickt.

Insgesamt sei das Bewusstsein für die Notwendigkeit solcher barrierefreier Angebote gewachsen, urteilt der Behindertenbeauftragte. Jetzt gelte es, diesen Trend zu verstetigen. Noch seien zum Beispiel Parteien nicht zur Barrierefreiheit ihrer Wahlprogramme verpflichtet. „Hier sollte der Gesetzgeber nachbessern“, sagt Dusel.

Viele wissen nichts von den Angeboten in Leichter Sprache

Woran es zudem hapert, sei die praktische Umsetzung, beobachtet Übersetzerin Reindl: „Viele Menschen wissen nichts von den Angeboten in Leichter Sprache.“ Problematisch findet sie auch die regionalen Unterschiede bei den Wahlunterlagen. Während in Hamburg Anschreiben und Wahlbenachrichtigung in eher Einfacher Sprache und übersichtlich gestaltet sind, strotzen die Schreiben im niedersächsischen Uelzen nur so von eng geschriebenen Sätzen mit komplizierten Formulierungen. „Hier gibt es wohl noch wenig Bewusstsein für barrierefreie Sprache,“ sagt Reindl, die in Uelzen gleich 30 Teilnehmende im Workshop hatte.

Leichte Sprache nutzt dagegen kurze Sätze und bekannte Wörter. Zusammengesetzte Wörter werden mit Bindestrich getrennt, schwierige Begriffe immer erklärt und Inhalte auf das Wesentliche verknappt. Dabei geht es Reindl in ihren Wahl-Workshops nicht nur um Informationen, sondern auch um politische Teilhabe. Sie möchte den Menschen vermitteln, dass Politik etwas mit ihrem Leben zu tun hat und sie ihr Wahlrecht nutzen sollten. Reindl: „Jede Stimme ist wichtig.“